Die Modernisierung der Götter

FILMREIHE Wegen seines Films „Von Griechenland“, der die Militärdiktatur voraussah, konnte Peter Nestler in Deutschland nicht mehr arbeiten. Das Arsenal zeigt nun Filme von ihm und von Straub/Huillet

Nestler ist einer der wichtigsten deutschen Filmemacher gewesen, weil er nicht versuchte, „die Leute zu kitzeln“

VON MADELEINE BERNSTORFF

Im Arsenal gibt es glücklicherweise wieder einmal Straub/Huillet-Produktionen zu sehen, die noch dazu vom Filmemacher Stefan Hayn auf besondere Weise mit einigen neuen und älteren Filmen von Peter Nestler zu zwei Programmen zusammengefügt wurden. Sie eröffnen vielfältige Bezüge zwischen Malerei und Sprache, und deren Kraft, mehr zu repräsentieren, als es ein fotografisches Bild vermag: hervorgebracht durch die Filme der Straubs und Peter Nestlers, herausgegraben unter dem Schutt des Selbstverständlichen.

In dem neuen Büchlein „Rencontres avec Jean-Marie Straub et Danièle Huillet“ wird die Ausstellung „Die Filme und ihre Orte“ beschrieben, mit Stills aus den Filmen der Straubs, die einen greifbar angehaltenen Blick auf das, was einen sonst beim Sehen erschüttert und fortträgt, eröffnen. Orte sind ihren Filmen eine Materie, die eine/n anstrahlt in ihrer Historizität und ihrer Gewalt. „Itinéraire de Jean Bricard“ ist so ein Film. Er beruht auf Gesprächsprotokollen einer Wanderung am Ufer der Loire, einem der naturbelassensten Flüsse Europas. Aufgezeichnet wurde dieses Gespräch von dem Soziologen Jean-Yves Petiteau. Der hat eine Methode zur Vergegenwärtigung eines Territoriums entwickelt, vergleichbar vielleicht der Spaziergangswissenschaft Lucius Burckhardts, die davon ausgeht, dass im Ergehen der Landschaft und der Orte genauere Bilder entstehen.

Der Motor schnurrt

Noch gemeinsam begonnen mit der 2006 verstorbenen Danièle Huillet dreht Straub, nun in Schwarzweiß, eine lange Bootsfahrt entlang dem winterlichen Loire-Ufer. Der Motor des Bootes schnurrt und das Wasser gluckert, und erst ganz spät erkennen wir die Inselspitze, die umrundet wird. Die Erzählung gleitet durch die Zeiten, als sich an den Loire-Ufern deutsche und amerikanische Soldaten gegenüberlagen und sich widerständige BewohnerInnen am besten in den Weidenbüschelköpfen versteckten.

In dem neuesten Straub-Film „Le Streghe“ (die Hexen) – Frauen unter sich – spricht Kirke im blauen Rock mit Leuko in der roten Bluse über den Mann Odysseus und die Erinnerung und die Tiere und das Lächeln und das Weinen. Wieder ein Text aus Cesare Paveses „Gesprächen mit Leuko“, erschienen 1947, angelegt in Alltagssprache, um den Mythos in die Gegenwart zu holen. Die Götter haben immer auch eine Gesellschaft, einen Umbruch, eine Modernisierung hinter sich. Sie besprechen in Dialogen die gegenseitigen Projektionen, die Menschen und Götter aufeinander werfen. Einige fragend und verwundert oder rigoros und mit Verve, andere wissend und melancholisch. „Pavese wird niemals zum Komplizen seines Bauchnabels“, sagt Jean-Marie Straub. Ein Waldstück, lichtdurchflutet bei Buti, dem Ort der Laientheatergruppe in der Toskana, mit deren Schauspielern Straub wochenlang probt, jeden Tag eine Stunde. Danach gibt es ein Glas in der Eckkneipe. Leuko vor dem Gestrüpp mit ihrem unbedingten Blick erinnert an eine Medusa, wenn das nicht ein ganz anderer Mythos wäre. Und das Plätschern eines Bachs begleitet die unerbittlich genaue Sprache der zwei.

Nicht gekitzelt

Eine gegenseitige Anerkennung verbindet die Straubs mit dem Filmemacher Peter Nestler. Straub sagt, Nestler sei einer der wichtigsten Filmemacher Deutschlands seit dem Kriege gewesen, weil er „nicht versucht hat, die Leute zu kitzeln“. Gewesen, weil er nach seinem Film „Von Griechenland“ von 1965, der die Militärdiktatur vorausgesehen hatte, in Deutschland von keinem Fernsehsender mehr Mittel bekam, nicht mehr arbeiten konnte und nach Schweden ging, wo er heute noch lebt.

Im Arsenal läuft Zeit von Zsóka und Peter Nestler über Künstler und Künstlerinnen in Ungarn, die ihre Kunst vorstellen. Die Kamera verbindet die Kunstwerke ganz nebenbei mit den Orten, woher sie kommen. Die Skulpturen erzählen von Arbeitsvorgängen jetzt und früher, von gemusterten Schürzen und Blusen, von propellerartigen Kopftuchschleifen, die grade abstehen wie die Schnurrhaare der kleinen holzgeschnitzten Katze. „Wut und Verzweiflung gaben ihr die Kraft, große Figuren herauszuhauen“, heißt es über eine Bildhauerin von lebensgroßen Holzskulpturen. Und sie erzählen auch von den Kämpfen der Gewerkschaftsjugendlichen gegen die Obrigkeit. Allen gemeinsam ist, dass sie ihre Kunstwerke nicht verkaufen wollen, sie verschenken sie lieber.

Peter Nestler wird auch seinen neuen Film „Tod und Teufel“ vorstellen, eine Familiengeschichte mit Abgründen, in der er das koloniale Grauen dokumentiert, ohne es zu kommentieren: Sein Großvater, ein schwedischer Adliger, bereiste die Welt mit seinem Fotoapparat und Schädelvermessungsgeräten. Der Imperialist war ein Jagdgenosse von Hermann Göring. Seine späteren Proteste gegen die Annexion der Tschechoslowakei blieben privat.

■ Heute Abend, 20 Uhr: Jean-Marie Straub und Danièle Huillet: „Il ritorno del figlio prodigo – umiliati“ (2003); Peter und Zsóka Nestler: „Zeit“ (1992)