Die bezaubernden Partisanen des Jazz

IMPROVISATION Charlie Haden ist ein sozialromantischer Jazzbassist. Jetzt werden die „Montreal Tapes“ seines Liberation Music Orchestra veröffentlicht

In den späten Fünfzigerjahren war noch nichts vorhersehbar, die Lust zum Risiko und Experiment reichte als Lebensinhalt eines Jazzmusikers

VON CHRISTIAN BROECKING

Das Flattern der Ekstase, die Wut von zarten Melodien geschützt. Selten zuvor ist der Widerspruch zwischen libertär-revolutionärer Attitüde und musikalischer Tradition so überzeugend gelöst worden wie im Werk des US-Bassisten Charlie Haden. Zum 20-jährigen Jubiläum seines Liberation Music Orchestras 1989 bekam er für das Montreal Jazz Festival eine Carte Blanche. Die acht Konzerte, die er damals in unterschiedlichen Besetzungen spielte, sind nun auf einer 6-CD-Box unter dem Titel „The Montreal Tapes“ zusammengefasst.

Das Vorhaben, die Konzerte einzeln zu veröffentlichen, war in den Neunzigern auf halber Strecke eingestellt worden, erst jetzt lässt sich ein vollständiger Eindruck gewinnen. Man hört Aufnahmen aus der besten Schaffensphase eines Bassisten, der wunderschöne, melodiös erhabene Improvisationslinien zu spielen versteht. Fünf der hier vorgelegten CDs sind Trio-Aufnahmen mit einflussreichen Weggefährten. Die beiden mit Abstand besten Konzerte bestritt Haden mit Don Cherry und Paul Bley. Musikalische Partnerschaften, die an Hadens Anfänge als Jazzmusiker zurückreichen.

In den späten Fünfzigerjahren war noch nichts vorhersehbar, die Lust zum Risiko und Experiment reichte als Lebensinhalt eines Jazzmusikers. Haden hatte sein Studium abgebrochen und war nach Los Angeles gezogen, mit dem kanadischen Pianisten Paul Bley spielte er dann regelmäßig im Hillcrest Club. Doch alles kam anders, als eines Abends ein junger Mann aus Texas hereinspazierte, der mit seinem Plastiksaxofon die Musiker von der Bühne und das Publikum aus dem Laden blasen konnte: Ornette Coleman.

Kurz darauf, 1959, nahmen Ornette Coleman, Don Cherry, Billy Higgins und Charlie Haden das Album „The Shape of Jazz to Come“ auf. Und für Haden begann damit eine Karriere, die ihn als eine der integersten Musikerpersönlichkeiten des Jazz ausweist. Es folgten Lehrjahre in New York und damit einhergehend die von Coleman angestoßene Klangrevolution namens Freejazz. Jene Jahre waren aber auch durch Hadens Drogenabhängigkeit, Gefängnisaufenthalte und Entziehungskuren geprägt. Entsprechend ist das Improvisationsmaterial der „Montreal Tapes“ angereichert mit Kompositionen von Ornette Coleman. Die Jahrhundertballade „Lonely Woman“ in der Trio-Version mit dem 1992 verstorbenen Schlagzeuger Ed Blackwell und dem Trompeter Don Cherry, der 1995 verstarb, ist nur einer der zahlreichen Höhepunkte.

Hadens eigene Karriere als Bandleader war von Anfang an mit sozialem Protest verbunden. Unmissverständlich zeigte er seine ablehnende Haltung gegen den Krieg in Vietnam, wurde im diktatorisch regierten Portugal verhaftet, sprach sich immer wieder gegen Armut und Rassismus aus. Auch die kubanische Revolution von 1959 wurde vom Liberation Music Orchestra im Jazz thematisiert. Ausgangspunkt war ein aus Kuba geschmuggeltes Tonband mit dem Song des kubanischen Volks- und Revolutionssängers Carlos Puebla, „Hasta Siempre“, einer Hommage an Che Guevara. Nach dem Tod Guevaras 1967 wollte Charlie Haden mit dem LMO eine explizit politische Message befördern. Auf ihrem Debütalbum gab es bereits eine freie Interpretation von „We shall overcome“, der Hymne der Bürgerrechtsbewegung. Auch in Montreal interpretiert das LMO jenen einflussreichen Song, nun mit jungen Musikern wie Joe Lovano am Saxofon und der Pianistin Geri Allen, die bis heute zu den namhaften Repräsentanten der US-Jazz-Szene gehört.

Kuba hat Haden nie mehr losgelassen. 1986 trat er mit dem LMO beim Jazzfestival in Havanna auf. In einem heruntergekommenen Tonstudio des staatlichen Rundfunks machte er dort die ersten Aufnahmen mit dem damals 23-jährigen Pianisten Gonzalo Rubalcaba. Wegen des US-Embargos dauerte es allerdings noch einige Jahre, bis Rubalcaba die USA erreichte. Zusammen mit ihm spielt Haden 1989 in Montreal auch Colemans „The Blessing“ und seine eigene LMO-Komposition „La Pasionara“. Die Schönheit der Musik sei seine wirksamste Waffe gegen die Politik der US-Regierung, hat Haden immer wieder behauptet; im Sommer 1989 improvisierte das LMO aus Protest gegen George Bush. Um etwas Schönheit in diese Welt zu bringen, spiele ein Jazzmusiker wie ein Guerillakämpfer aus dem Untergrund, sagte Haden damals. Miles Davis und Ornette Coleman bezeichnete er als Jazzpartisanen. Ganz besonders auch von ihnen zeugen die bezaubernden Klänge auf den „Montreal Tapes“.

■ Charlie Haden: The Montreal Tapes. 6-CDs-Box-Set. Verve/Universal Music France