Entdeckungsreisen mit feinem Blick

ZEICHNER Angstfrei auch in komplizierten Gegenden: Guy Delisle und seine „Aufzeichnungen aus Jerusalem“

VON KATJA LÜTHGE

Die Nahrungsaufnahme ist ein unbestrittenes Grundbedürfnis des Menschen. Die Esskulturen, die sich um diesen Akt gebildet haben, variieren jedoch erheblich. Es gibt religiöse, politische, gesundheitliche, ethische, soziale, jahreszeitliche, hygienische, traditionelle, moralische, nachvollziehbare und idiosynkratische Gründe, die für oder gegen den Konsum bestimmter Dinge sprechen. Keines dieser Kriterien scheint für Guy Delisle zu gelten. Wie in seinen tagebuchartigen Comics „Shenzhen“, „Pjöngjang“, „Aufzeichnungen aus Birma“ und „Aufzeichnungen aus Jerusalem“ nachzulesen ist, nähert sich der weitgereiste kanadische Zeichner mit erstaunlicher Offenheit den jeweiligen Speisegepflogenheiten.

Sprachunkundig probiert Delisle in der chinesischen Sonderwirtschaftszone Shenzhen Hund und Schlange, konsumiert im nordkoreanischen Pjöngjang undefinierbar Fettiges, knirscht in Birma auf gerösteter Heuschrecke herum und schreckt auch vor Getränken fliegender Händler nicht zurück, um in der heiligen Stadt der Muslime, Juden (und Christen) Schweinefleischwürstchen und immer wieder Hummus zu essen.

Es erscheint vielleicht banal, die Würdigung eines Künstlers mit dessen Essgewohnheiten einzuleiten, aber sie illustrieren im Wortsinne recht anschaulich die Haltung des 1966 in Québec geborenen und in Montpellier lebenden Guy Delisle gegenüber den von ihm beschriebenen Situationen, Menschen und Orten. Seltsam vorurteils- und angstfrei nähert er sich dem Unbekannten, erkenntnisleitend ist dabei seine solide Ich-Bezogenheit.

Das Essen schmeckt oder schmeckt eben nicht, es ist bekömmlich oder eben nicht. Nie gelangt Delisle über diese Erfahrungen zur vergleichenden Kulturanalyse oder zu historischen Einordnungen. Seine Stärke ist vielmehr eine geschulte Beobachtungsgabe, ein feiner Blick für die Besonderheiten eines unvertrauten Kulturraums und die Absurditäten des Alltags.

Bestes Comic des Jahres

Über das Menü in einem Restaurant am Potsdamer Platz in Berlin, in das die kanadische Botschaft den Künstler und einige Journalisten anlässlich der deutschen Ausgabe seiner „Aufzeichnungen aus Jerusalem“ kürzlich lud, würde er folglich wenig zu schreiben und zeichnen haben – zu gewöhnlich sind Speisen und Gespräche. Vielmehr ist das Fremde die notwendige Grundlage seiner autobiografischen Arbeiten, wie er im Gespräch betont. Vertrautes zu inszenieren, interessiert ihn nicht. Die bisweilen pädagogische Naivität, mit der er sich dem Neuen nähert, ist notwendig auf Distanz zum Geschehen angewiesen.

Man spürt förmlich seine kindliche Freude beim Entdecken von obskur Erscheinendem und an Erschütterung der eigenen Erwartungshaltung. Für dieses Talent wurde der Zeichner gerade offiziell ausgezeichnet. Die zu Recht viel gelobten und auf französisch bereits zigtausend Mal verkauften „Aufzeichnungen aus Jerusalem“ (Reprodukt Verlag, 336 Seiten, 29 Euro) wurden auf dem größten europäischen Comic-Festival in Angoulême als bestes Album des Jahres geehrt.

Im August 2008 folgt Guy Delisle seiner Frau, die für die Organisation Ärzte ohne Grenzen arbeitet, für ein Jahr nach Jerusalem. Mit den beiden kleinen Kindern beziehen sie eine Wohnung in Beit Hanina im Ostteil der Stadt, einem arabisch geprägten Viertel, das sowohl von jüdisch-israelischen Taxifahrern als auch von der Stadtverwaltung gern gemieden wird, wie die Neuankömmlinge bald feststellen. Aber die Mieten sind günstig, zahlreiche NGOs haben ihre Mitarbeiter hier untergebracht. Delisle richtet sich schnell in seinem Hausmannsleben ein.

Seit der ehemalige Trickfilmzeichner allein vom Comiczeichnen leben kann, genießt er seine Ortsunabhängigkeit, die es ihm erlaubt, seiner Frau wie schon nach Rangun jetzt nach Jerusalem zu folgen. Viel Zeit verbringt er dort mit seinen Kindern: auf dem Spielplatz im Zoo oder einfach im Dauerstau im Auto, in dem er sie morgens zu Kindergarten und Schule bringt und nachmittags wieder abholt.

Auf die beneidenswerte Gelassenheit angesprochen, die er im Comic im Umgang mit seinen Kindern zeigt, lächelt der häufig ein wenig müde wirkende Vielreisende sogar einmal. Da habe er die Realität vielleicht ein wenig geschönt, er würde gerade unter Stress auch ziemlich ungeduldig sein können.

Die kinderfreie Zeit nutzt er jedenfalls intensiv, um die Umgebung zu erkunden. Bei einer dieser Exkursionen entdeckt er die Israel von den palästinensischen Gebieten trennende mehrfach übermannshohe Mauer, die er fortan mit Leidenschaft skizziert und fotografiert, zahlreiche dieser Impressionen sind im Comic zu bestaunen. Vor allem aber hält er seine mehr oder weniger zufälligen Begegnungen mit Soldaten, Siedlern, Lehrern, palästinensischen Studenten, jüdischen, muslimischen und christlichen Geistlichen, NGO-Mitarbeitern und Hausangestellten mit karikaturhaft vereinfachendem Strich fest und zeichnet so beredte Zeugnisse einer unmöglichen und nicht selten bigotten Gesellschaft.

Mögen auf dem Spielplatz sogar einmal orthodoxe Mütter neben muslimischen Eltern stehen – an den Grenzposten herrscht Unversöhnlichkeit. Und so aggressiv manch jüdischer Israeli die illegalen Siedlungen verteidigt, die von Steinwürfen beschädigten Autofenster lässt er sich am Sabbat vom arabischen Automechaniker reparieren.

Der Müll jüdischer Siedler

Delisle fährt nach Nablus und Hebron und zeigt nüchtern die Zumutungen, die den Bewohnern durch die jüdischen Siedler entstehen; bedrückend spannt sich das Netz zwischen den Häusern in der Altstadt, um die unten wohnenden Palästinenser vor dem Müll der oben wohnenden Siedler zu schützen. Wahrlich aus dem Häuschen gerät er aber zum Beispiel, als er in Tel Aviv einen älteren Juden mit Hitlerbärtchen sieht! Fundstücke, die dem genau hinschauenden Flaneur immer wieder vor die Linse geraten.

Delisle ist trotz aller präzisen Ortsbeschreibungen und der Informationsdichte kein Reporter. Er recherchiert nicht im eigentlich Sinne, er schaut, während er sich am liebsten ziellos durch die Umgebung treiben lässt. Auf diesen Streifzügen skizziert er wo immer möglich Mensch und Mauer, macht unzählige Fotos und Notizen, die eigentliche Arbeit am Comic beginnt dann erst nach der Rückkehr.

Als Monteur des Materials, als Erzähler – schwarze kurze Haare, seitlich am Kopf angebrachte Nase, leicht nach vorn gebeugte Schultern, kleiner Bauch – ist er in den Panels meistens sichtbar, die Subjektivität des Dargestellten ist so präsent. Der Künstler beansprucht keine Deutungshoheit, er besteht auf den momenthaften Charakter des Gezeigten. Mehr noch sieht Delisle, der mit den wortlosen „Louis fährt Ski“ und „Louis am Strand“ auch anekdotische Erfahrungen mit seinem Sohn veröffentlicht hat, seine Rolle eher als Unterhalter denn als Aufklärer, worauf er nachdrücklich hinweist.

Dass ihm dabei tiefere Einblicke in die zerstörerische Dynamik der permanenten Provokationen gelingen als mancher Reportage, spricht für seinen elaborierten Umgang in der Verbindung von Bildern und Texten. Eine Körperhaltung, ein Blick, die das Gesagte unterlaufen, Grenzen, die quer durch Häuser verlaufen, die spürbare Anspannung in einer an Waffen und Soldaten reichen Umgebung: Delisle versteht es vorzüglich, Stimmungen zu erzeugen. Dabei ist ihm jede Aufgeregtheit fremd, vielmehr verdichten sich die disparaten Erlebnisse zu einem lakonischen Räsonieren.

Ein Eindruck, der auf der Bildebene verstärkt wird. So fallen auf den klaren, zurückhaltend kolorierten Seiten knallgelbe vielzackige Sterne auf, die Lärm signalisieren. Aber egal, ob Kindergeschrei, Alarmanlage, der Ruf des Muezzins, das Radio oder eine Raketenexplosion, in ihrer grafischen Gleichförmigkeit beanspruchen sie gleiche Wichtigkeit. Wer soll hier richten? So ergeben seine detailreichen und bisweilen hoch amüsanten Darstellungen alltäglichen Erlebens in der Zusammenschau ein komplexes Bild des Konflikts, der in der Lebenswirklichkeit jeden Einzelnen prägt.