Die blutige Spur des Tippu Tip

Er war der letzte große Sklavenhändler in Zentralafrika. Und er wurde der erste große Kolonialgouverneur der Europäer. Vor 100 Jahren starb Tippu Tip. Doch sein Erbe reicht bis in die Kriege der Gegenwart

VON DOMINIC JOHNSON

Hamed bin Muhammed bin Juma Rajad el Murjebi, bekannt und gefürchtet als Tippu Tip, erlag am 13. Juni 1905 in seiner Heimatstadt Sansibar im Alter von rund 70 Jahren der Malaria. Als er starb, war sein Lebenswerk bereits auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet: Die jahrhundertealten arabischen Handelsimperien in Ostafrika waren vor dem Ansturm der europäischen Eroberung zerfallen. Der Islam wich dem Christentum, der Sklavenhandel der Zwangsarbeit. Innerhalb weniger Jahrzehnte erlebte die östliche Hälfte Afrikas eine Kette von Kriegen, Revolutionen und Systemwechseln, die in ihrem Tempo und ihrer Nachhaltigkeit ihresgleichen in der Weltgeschichte suchen.

Die alte Ordnung ging unter. Und in einer Serie von Blutbädern und Völkermorden, von denen sich die Region bis heute nicht erholt hat, entstanden die ersten Umrisse des modernen Afrika. Tippu Tip, der das alte System zu nie gekannter Größe hatte bringen wollen, erwies sich gegen seinen Willen als Agent der neuen Zeit – eine tragische Figur, in der man zugleich die Warlords der Gegenwart wiedererkennt.

Sansibar war im 19. Jahrhundert ein Vorposten jener frühen Globalisierung, bevor Europa sich imperial über den Globus ausdehnte. Die der afrikanischen Küste im Indischen Ozean vorgelagerte Insel war der wichtigste einer Kette von arabisch kontrollierten Handelsplätzen in Ostafrika, die Asien mit Afrika verbanden.

Aus Afrika flossen edle Rohstoffe – Gewürze, Elfenbein – Richtung Indien und China. Die saisonalen Winde des Monsuns, die zwischen November und Februar Segelschiffe aus dem Arabischen Meer südwestlich Richtung Ostafrika treiben und zwischen April und September wieder zurück, prägten den Rhythmus der Geschäfte. Die Sultane von Oman, auf halbem Weg zwischen Ursprungs- und Zielland der Handelsgüter gelegen, dominierten den Handel und erkoren sich Sansibar zum Stützpunkt, wo sie sich bald vom Mutterland Oman selbstständig machten. Zu dem Handel gehörte auch der Ankauf afrikanischer Sklaven – erst für Asien, dann für die Gewürznelkenplantagen auf Sansibar selbst. Es war kein rein arabisches Geschäft: Inder waren als Finanziers wichtig, und als Leitwährung galt der Maria-Theresia-Dollar aus Österreich, der um 1860 vom US-Dollar abgelöst wurde.

Die Sklavenmärkte der prächtigen Residenzstadt Sansibar beeindruckten und ekelten europäische Reisende gleichermaßen. Manche Händler ließen ihre afrikanischen Sklaven, frisch auf dem Festland des heutigen Tansania erstanden, nackt in Reih und Glied aufmarschieren, nach Größe gestaffelt und eingeölt zur Einzelinspektion. Andere sortierten sie wie Erdbeeren, gute und schlechte zusammen in sechs mal sechs Meter großen Käfigen mit je 150 Insassen, die man komplett kaufen musste. Viele überlebten die Überfahrt vom Festland auf die Insel nicht, und die Leichenentsorgung war ein Dauerproblem der öffentlichen Hygiene, um das sich vor allem sensible Europäer in ihren Konsulaten sorgten. Sansibar in der vorkolonialen Ära war eine selbstbewusste Großmacht, um deren arabischen Hof mit der roten Sultansfahne sich Weiße tummelten, die teils das Geschäft suchten, teils Macht an sich reißen wollten. In diese Welt wurde Tippu Tip um 1835 geboren, Sohn des aristokratischen Händlers Muhammad bin Juba.

Das Kind war ungewöhnlich schwarz, was ihm später nützlich werden sollte. Schnell erfuhr er, wie Sansibaris ihre Handelsexpeditionen in Afrika organisierten: einen Kredit aufnehmen, zum Festland segeln, mit bewaffneten Soldaten eine Kolonne aus Sklaven und angeheuerten Trägern zusammenstellen und ins Inland vorstoßen. Das begehrteste Beutegut waren Elfenbein und Sklaven.

Solche Kolonnen konnten tausende Menschen umfassen. Die Reisen gingen immer zu Fuß und dauerten Monate und Jahre. Kommunikation mit Sansibar gab es nicht. Wenn während ihrer Abwesenheit zu Hause ein Sultan starb oder die Preise sanken, erfuhren die Händler es nicht. Ihre Reisen waren Warentermingeschäfte mit allergrößtem Risiko. Für die tatsächliche Arbeit des Einkaufens, Raubens und Schmiedens von Allianzen mit lokalen Potentaten nutzten die Sansibaris lokale Alliierte, vor allem unter dem Nyamwesi-Volk, das den Ruf der „Träger Ostafrikas“ errang. Vermutlich war Tippu Tips Mutter eine Nyamwesi-Frau.

Bagamoyo an der Küste beim heutigen Daressalam, Tabora im Binnenland, Ujiji am fernen Tanganjika-See südlich von Burundi – je reicher die Händler wurden, desto tiefer drangen sie nach Afrika ein und desto gründlicher leerten sie die Gegend von arbeitsfähigen Menschen und Elefanten, sodass die nächste Reise noch weiter vordringen musste, noch länger dauerte, noch mehr Beute bringen musste, um sich zu rentieren, und daher noch mehr Träger, also noch mehr Risiko. Irgendwo musste die natürliche Grenze dieses Systems liegen. Tippu Tip sollte sie entdecken – und daraus seinen Vorteil ziehen.

Schon vor Tippu Tip waren die Handelskarawanen zuweilen jenseits des Tanganjika-Sees vorgedrungen, in den heutigen Kongo, ein unerschlossenes Land voller mächtiger Königreiche und unberührter Natur. Aber erst Tippu Tip erklärte dies zur Politik. Er stach nicht nur zuweilen über den See, sondern blieb auch dort. Er ließ sich nieder, als Vasall lokaler Herrscher. Im Laufe der 1860er-Jahre baute er sozusagen als ständiger Vertreter des fernen Sansibar ein Handelsreich am Oberlauf des Kongo-Flusses auf, dort als Lualaba bekannt. Die Handelsdepotstadt Nyangwe, 1869 von Arabern gegründet, baute er ab 1874 zu seiner Residenz aus und zum größten Sklavenumschlagsplatz Zentralafrikas.

Aus einem sansibarischen Händler wurde ein kongolesischer Kriegsherr. Tippu Tip schwang sich zum „starken Mann“ des Tetela-Volkes auf, dessen Führer unter seinem Schutz begannen, Nachbarvölker zu unterjochen. Er belächelte die weißen Entdeckungsreisenden, die kreuz und quer durch Zentral- und Ostafrika reisten, um die Nilquellen zu entdecken und zu klären, ob der Kongo-Fluss wirklich existierte. „Wenn ihr Weißen euer Leben wegschmeißt, müssen wir Araber das noch lange nicht machen“, erklärte der Händlerkönig dem US-Amerikaner Henry Morton Stanley, der das Kongobecken erst für die Briten und dann für die Belgier erschließen sollte. „Wir reisen langsam, um Elfenbein und Sklaven zu sammeln. Ihr Weißen sucht bloß Flüsse und Seen und Berge und verschwendet eure Zeit.“

Das arabische Gebaren im Kongo nahm die modernen Kolonialkriege vorweg – aber das Ziel war nicht die Gründung einer Kolonie, sondern allein der geschäftliche Profit. Die Methode bestand darin, mit Waffengewalt in ein Gebiet vorzudringen, dort eine Basis zu errichten, sich zurückzuziehen und angeheuerte Milizen Steuern oder Handelswaren eintreiben zu lassen.

Als ihr Staatsgebiet betrachteten die Sansibaris solche Gebiete nicht. Ein Cousin Tippu Tips hieß mit Spitznamen „Heuschrecke“, weil seine Karawanen überall Verwüstung hinterließen. Während Europas Mächte in Afrika nach territorialer Kontrolle auf der Landkarte strebten, aber die Last der militärischen Eroberung des Terrains möglichst mieden, eroberten die Araber das Land und scheuten sich weitestmöglich vor der Last territorialer Herrschaft. Ihr Vorgehen ähnelte dem moderner afrikanischer Warlords, die weniger ein Gebiet regieren, als sich Zugang zu lukrativen natürlichen Ressourcen verschaffen wollen, möglichst ohne sich mit lästigen Menschen abgeben zu müssen. Die beiden Strategien sollten bald in Kollision geraten – und die europäische erwies sich als stärker.

Denn die Expansion Sansibars ins Herz Afrikas hinein geschah zeitgleich mit dem Beginn des europäischen Ausschließlichkeitsanspruchs für den gesamten Kontinent. Auf der Berliner Konferenz 1884 war Freihandel für das Kongobecken festgelegt worden und das Prinzip der militärischen Präsenz vor Ort als Grundlage eines europäischen Machtanspruchs in Afrika. So musste aus europäischem Händlereinfluss politische Herrschaft werden. In Afrikas Osthälfte setzte ein Verdrängungswettbewerb nicht nur zwischen rivalisierenden Europäern ein, sondern auch zwischen Weißen und Arabern.

Sansibar und Kairo waren im späten 19. Jahrhundert die expandierenden Zentren des arabischen Imperialismus in Afrika. Aus Sansibar drangen die Araber über das heutige Tansania nach Westen vor, aus Kairo über den heutigen Sudan nach Süden. Aufeinander trafen sie im heutigen Kongo. Aber bevor daraus eine Konfrontation entstehen konnte, waren beide Reiche wieder zerfallen – aufgrund innerer Wirren, die von Europa aus der moralischen Keule des Sklavereiverbots angefacht wurden und die in kurzer Zeit zum kompletten Souveränitätsverlust der Araber führten.

Doch an den Peripherien beider Reiche trieb der arabische Imperialismus seltsame späte Blüten – je mehr die Hauptstädte unter europäischen Einfluss gerieten, desto stärker konzentrierten sich die Araber auf die Handelsgebiete tief in Afrika. Südsudan und Ostkongo wurden ihre wichtigsten Aktionsgebiete – und waren noch Ende des 20. Jahrhunderts die instabilsten Regionen Afrikas mit den blutigsten Kriegen.

Als Tippu Tip 1883 wieder einmal aus Sansibar Richtung Kongo aufbrach, sah seine Zukunft blendend aus. Seine Karawane war die größte der sansibarischen Geschichte. Er sollte, so der Auftrag des Sultans, den oberen Kongo politisch festigen und den arabischen Handel gegen die Europäer schützen. Einige hundert Kilometer flussabwärts von Nyangwe hatte Henry Morton Stanley im Auftrag des belgischen Königs und seines „Freistaats Kongo“ den Handelsposten Stanley Falls errichtet, das heutige Kisangani, von wo aus der Fluss nach Westen schiffbar war. Eine europäische Handelsroute nach Westen sollte der arabischen nach Osten Konkurrenz machen.

Aber noch während Tippu Tip versuchte, sein Kongo-Reich zu konsolidieren und die Belgier zurückzudrängen, brach hinter ihm Sansibar zusammen. Als Teil eines britisch-deutschen Kolonialdeals zur Aufteilung der Einflusssphären in Ostafrika wurde das tansanische Festland 1886 plötzlich zum deutschen Schutzgebiet, während Sansibar unter britischer Oberhoheit blieb. Sansibars Sultan akzeptierte, zur Verblüffung selbst der Briten. Schlagartig war das Großreich weg. Tippu Tip kehrte notgedrungen heim. Und als er 1887 nach Kongo zurückreiste, war er kein Emissär des Sultans von Sansibar mehr, sondern Helfer einer erneuten Kongo-Expedition Stanleys mit dem Amt eines Kolonialgouverneurs für den Oberen Kongo, ein mit britischer Diplomatie eingefädelter Posten im Auftrag des belgischen Königs mit sansibarischem Segen.

So wurde Tippu Tip zum letzten Vertreter der alten Zeit und zum ersten der neuen. Das Arrangement mit den Europäern galt ihm als notwendiges Übel. Er war Realist – und Geschäftsmann. Nie war sein Handel in Afrika intensiver als in dieser Schlussphase, als er wusste, dass seine Zeit endete. Die Vorahnung war richtig. 1889 starb Sansibars Sultan Bargash; Nachfolger Khalifa beendete das Arrangement mit Belgien und beorderte Tippu Tip aus Kongo zurück. 1890 verließ dieser sein afrikanisches Herrschaftsgebiet – zum letzten Mal. Er sollte Sansibar nicht mehr verlassen bis zu seinem Tod 1905.

Als Tippu Tip 1890 Kongo verließ, brach erneut hinter ihm ein Reich zusammen. Die zurückgelassenen Araber zogen in den Krieg gegen ihre europäischen Rivalen. Innerhalb von nur fünf Jahren wurden sie von den Belgiern vernichtend geschlagen, darunter Tippu Tips Sohn. Wer übrig blieb, ließ sich in den belgischen Kolonialdienst einspannen. Unter europäischer Flagge wüteten sie schließlich noch schlimmer als zuvor. Denn die Belgier verboten zwar den Sklavenhandel, ersetzten ihn aber durch Zwangsarbeit vor Ort, an der noch viel mehr Menschen starben. Den Elfenbeinhandel verboten sie nicht. Sie beanspruchten einfach darin ein Monopol und verlangten von den Afrikanern die Mitarbeit bei der Ressourcenplünderung.

Historiker schätzen, dass in weiten Teilen des einstigen arabischen Einflussgebiets kaum ein Dorf mehr stand, als die zweite koloniale Eroberung mittels der Täter der ersten – Belgier mit arabischen Handlangern – vollendet war. Kongo verlor in den Kriegen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts die Hälfte seiner zwanzig Millionen Einwohner. Kein Kolonialgebiet entstand durch mehr Blutvergießen als Belgisch-Kongo.

Aber die Präsenz der Araber hinterließ Spuren. Nicht nur sind in den Teilen des Kongo, in denen Tippu Tip am dauerhaftesten Eindruck hinterließ, Warlords mit einem ähnlichen Umgang mit Herrschaft und Ressourcen in den jüngsten Kongokriegen besonders stark gewesen. Auch der Islam und die Suaheli-Sprache der ostafrikanischen Küste sind noch präsenter als sonst in Zentralafrika, die Bevölkerung ist verstädterter, die traditionellen Dorfzusammenhänge schwächer. Das Tetela-Volk, die Hauptstütze Tippu Tips im Kongo, wuchs zu einer regionalen Macht – auch indem viele Nachbarvölker sich fortan als Tetela bezeichneten – und ein Tetela, Patrice Lumumba (1925 bis 1961), wurde im 20. Jahrhundert der wichtigste Herausforderer der Belgier im Kongo und der Befreiungsheld des Landes.

Auf seltsame Weise kehrt in den jüngsten zentralafrikanischen Wirren die verschüttete Geschichte jener Zeit zurück. Die Staatsgrenzen, die die Kolonialära zog, prägten die Gesellschaften wohl weniger tief als die Handelsrouten der Jahrhunderte zuvor. Die Frage, ob der an Ressourcen reiche Ostkongo seinen Außenhandel nach Osten richten soll, Richtung Indischer Ozean, oder nach Westen Richtung Atlantik, steht an der Wurzel der brutalen Warlordkriege, die das Land seit 1998 so schwer verwüstet haben wie seit der kolonialen Eroberung nicht mehr.

Der Südsudan, der erst in diesem Jahr nach Jahrzehnten des Krieges seine Autonomie vom Sudan errang, steht vor einem ähnlichen Dilemma: Ausrichtung nach Süden, zu den Afrikanern, oder nach Norden, zu den Arabern? Es sind ebendiese beiden Regionen, anhand deren Kontrolle sich die europäisch-arabischen Machtkämpfe des späten 19. Jahrhunderts zuspitzten. Die Spuren der Geschichte arbeiten sich oft erst nach langer Zeit wieder an die Oberfläche zurück, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt, die sie noch erkennen – und meiden können.

DOMINIC JOHNSON, 38, ist Afrika-Redakteur der taz