Im Körper der Schwester

Die Kamera als Quelle von Selbstbewusstsein und Geschichtsschreibung: Mit den Fotografien der Camaristas aus Chiapas erhalten die indigenen Kulturen erstmals ein eigenes visuelles Gedächtnis

VON ANNE HUFFSCHMID

„Meine Schwester flechtet Zöpfe aus den Haaren ihrer Tochter“, steht unter einem der Fotos. Zu sehen sind ein versonnen dreinblickendes Mädchen und eine junge Frau, beide festlich mit pinkfarbener Schärpe um den schweren Wollrock, blauer Bluse und roten Bändern im dunkel glänzenden Haar. Keine schaut in die Kamera. Auf einem anderen Bild –„Meine Mama wäscht ihre Haare“ – fließt langes nasses Haar in den Fluss einer grauen Landschaft. Was ist anders, so ließe sich fragen, an den Aufnahmen der Camaristas, der indigenen Fotografen aus Chiapas, als die bekannte Bilderwelt des Indigenen, von dunkelhäutigen Menschen in bunten Tüchern, von Frauen mit Zöpfen und Männern mit Hüten? Gibt es gar so etwas wie eine indigene Ästhetik?

Derlei Fragen, es sei gleich gesagt, müssen offen bleiben. Denn es geht um etwas, das der Bildwirkung vorgeschaltet ist: dass ein anderer Blick diese Bilder hervorbringt. Nicht das Reporterauge auf der Suche nach aussagekräftigen, möglichst spektakulären oder stereotypen Anblicken; nicht der wohlwollend-voyeuristische des touristischen Flaneurs, nicht der sezierend-analytische von Ethnoforschern. Es ist nicht einmal die Umkehrung dieses Blicks. Denn die Camaristas fotografieren nicht die Fremden, sondern die Dinge und Menschen, die das eigene Leben bevölkern. Eben hierin liegt die Attraktion dieser Fotografien: dass sie etwas erzählen aus Welten, die uns auf trügerische Weise vertraut scheinen, aus einer bisher unbekannten Perspektive.

Der Impuls dazu kam, nicht eben unerwartet, von außen. 1992 startete Carlota Duarte, christlich inspirierte Fotografin aus den USA, ihr „Chiapas-Fotoprojekt“. Mit privaten Spendengeldern und einer Hand voll gebrauchter Kameras begann sie in San Cristóbal de las Casas, zusammen mit dem Maya-Literaturzentrum, Fotokurse für Indigene aus den umliegenden Dörfern. Dabei ging es ihr lediglich um die Bereitstellung von Technik und Know-how, „ohne irgendwelchen visuellen Standards vorzugeben“. Seit Mitte der Neunzigerjahre wird das Archivo Fotográfico Indígena (AFI, www.chiapasphoto.org) von der Ford Foundation gefördert und beschäftigt neben seiner Gründerin sechs weitere Fotografen. Sie geben Workshops und bauen eine Sammlung auf, in der rund 75.000 Negative archiviert sind.

Rund 200 Indigene aus 10 verschiedenen Maya-Ethnien haben bislang für das AFI fotografiert, knapp 30 von ihnen sind inzwischen in ihrem eigenen Verein Lok’tamayach (Fotografen von Chiapas) organisiert. Die kulturelle Macht, die das Camarista-Projekt entfaltet, ist komplex. Da ist zunächst die Aneignung eines Mediums, also die Wandlung vom fotografierten Objekt zum fotografierenden Subjekt.

Damit eröffnen sich neue Möglichkeiten der Erinnerung und einer visuellen Geschichtsschreibung. Dass damit Neuland erobert wird, zeigt das Beispiel der Chamulas: In der katholischen Gemeindehauptstadt San Juan Chamula ist das Fotografieren verboten, die AFI-Mitarbeiter – viele von ihnen als Angehörige einer religiösen Minderheit vertrieben – verstoßen gegen die Regeln einer autoritären Tradition und Gemeinschaft.

Xunka López Díaz, die mit Mitte 20 zum ersten Mal zur Kamera griff, inszeniert die Geschichte ihrer eigener Vertreibung mit einem Kunstgriff: Zu sehen ist ihre kleine neunjährige Schwester, die längst in der Stadt lebt und sich dort den Luxus des Spielens leisten kann. Auf den Fotos jedoch führt sie ernsten Gesichtes die bunte Chamula-Tracht vor. „Ich erzähle meine Geschichte im Körper meiner kleinen Schwester, weil ich keine Bilder meiner Kindheit habe“, sagt López Diaz.

Als „unerwartet raffiniert“ bezeichnete die New York Times die Fotos von Maruch Santiz Gómez. Die 1975 geborene Tzotzil-Indianerin hatte viele Jahre Schafe gehütet, bis sie sich als 17-Jährige dem Maya-Literaturzentrum anschloss und wenig später auf Duarte und ihre Kameras traf. Ihr Buch „Creencias“ (Lebensweisheiten), das 1999 als erste Publikation aus der Camaristas-Produktion erschien, ist eine betörende Reise durch das Wunderland der Dinge, ein minimalistischer, schwarz-weiß gehaltener Bilderreigen von großer Schönheit und heiterer Surrealität. Denn all die Wollknäuel, Hühnerkrallen, Holzscheite, Kämme und Kürbisse sind Requisiten überlieferter Glaubenssätze, die Goméz von Dorfältesten erfuhr: „Es ist schlecht, die Spitzen von Hühnerflügeln zu essen, da wird man eifersüchtig“, oder „es ist schlecht, sich nachts zu kämmen, es heißt, dass dann unsere Mutter stirbt.“

Die Annahme einer zu bewahrenden ästhetischen Unschuld, wie sie Duarte postuliert, mag problematisch erscheinen. Doch der Ansatz künsterischer Selbstermächtigung ist bemerkenswert: Zwischen dem So-Sein der alltäglichen Dinge und ihrer Fokussierung öffnet sich jener Spalt, in dem Kunst möglich wird, als Verfremdung und Neuerfindung, nicht zuletzt auch als Übersetzung von der einen in die andere Sprache. „Das Foto kann gelesen werden“, sagt Maruch Santiz Gomez, auch von Menschen, die keinen Buchstaben entziffern können. Gegen alle Bilderwartungen, die mit dem Wort Chiapas assoziiert sind – Folklore, Maskierte und Militärs – fokussieren die Camaristas jene Alltagsräume, durch die Tag für Tag das Leben fließt. Ein halbes Dutzend Fotobände wurden bislang publiziert, diverse Fotoausstellungen reisten nach New York, Johannesburg, Reykjavik oder Amsterdam. In Berlin ist nun erstmals eine Auswahl von Camaristas-Bildern zu sehen, im Lateinamerika-Institut der FU.

Dieses Wissen ums Gesehen-Werden wird zur Quelle von Selbstbewusstsein. „Wir sind stolz auf unsere Fotos“, sagte Xunka López Díaz vor Jahren auf einer Buchpräsentation in Mexiko-Stadt, denn darum gehe es, „uns zu zeigen“. Welche neuen Bilder daraus entstehen, hängt letztlich vom Betrachter ab. Davon, welche Details dieser zu registrieren bereit ist: Wenn etwa bei einem Fest die Feiernden der Kamera vertrauensvoll den Rücken zudrehen, die Kamera wiederum keine der spektakulären Masken und dunkelschönen Gesichter heranzoomt.

Anne Huffschmid, lange Mexiko-Korrespondentin der taz, hat den Kontakt der Camaristas nach Berlin vermittelt. Zu sehen sind die Camarista-Bilder am 11. Juni, 17 bis 1 Uhr, Foyer des Lateinamerika-Instituts, Rüdesheimer Str. 54–56