Es gibt tausend gute Gründe

Auch in der evangelischen Kirche schwinden die Mitglieder. Was verbinden Menschen mit der Kirche? Drei Protokolle

Protokolle von Linda Gerner
und Raoul Spada

Warum ich aus der Kirche ausgetreten bin …

Aufgewachsen bin ich in einer katholischen Familie in einer kleinen Diasporagemeinde in Hessen. Wir hatten einen fortschrittlichen Pfarrer, aber in der Familie wurden die Regeln der Kirche streng gesehen. Jeden Sonntag waren wir im Gottesdienst – und als Kind war mir das nie unangenehm. Erst als Jugendliche habe ich gemerkt, was für ein patriarchales System das ist. Ich wurde ausgebremst von dieser Kirche mit den strengen Regeln, nach denen Jungs und junge Männer immer mehr Rechte und Möglichkeiten hatten. Dagegen begehrte ich auf. Irgendwann wollte ich nichts mehr damit zu tun haben. Der Glaube war mir trotzdem wichtig, deswegen bin ich mit 30 konvertiert.

Als ich nach Berlin zog, kam ich in eine moderne, offene evangelische Gemeinde. Der aufgeschlossene Pfarrer verließ die Gemeinde aber bald. Die rückständigen Predigten seines Nachfolgers haben mich mittelmäßig schockiert; sehr bibeltreu in der Auslegung, sehr starr. Immer wieder spürte ich die Abgehobenheit männlicher Führungspersonen. Es war mir zuwider, wie manche ihre Machtposition ausnutzten: diese fehlende Offenheit für Individualität, das Beharren auf Kirchenregeln. Die Kirche ist aber nicht der Glaube, sie ist nicht Gott. Sie vertritt für mich einen Sinn nach Gemeinschaft – Menschenrechte etwa oder dass Menschen gut miteinander umgehen auf Erden.

Für mich war die Kirche immer eher eine Serviceanstalt. In persönlichen Krisen, da bin ich ganz egoistisch, kann der Halt durch die Kirche hilfreich sein: als Anlaufpunkt in Notzeiten, als Seelentröster. Ich hatte sie immer noch als Anker. Aber das hängt an den Personen. Wenn ich zu den Menschen kein Vertrauen mehr habe, dann gibt es für mich nur noch die Struktur – und die kann ich heute nicht mehr vertreten.

Meine endgültige Entscheidung, im April 2023 die Kirche zu verlassen, hat einen sehr persönlichen Hintergrund: Als Kind wurde ich in meiner Familie missbraucht. Ich habe diese Erfahrung erst Jahre später in einer Therapie aufgearbeitet. Jetzt, nach einem Burn-out, habe ich wieder eine Therapie angefangen. Mir wurde klar, wie solche Gemeinschaften und Machtstrukturen wie gemacht sind für Missbrauchsfälle, nach denen es oft Jahrzehnte braucht, bis Menschen darüber sprechen können.

Für mich gibt es da einen Zusammenhang: Meine Erziehung, gebaut auf dem ach so religiösen Fundament, hat mir noch mitgegeben, dass ich Verständnis für den Täter haben soll. Die Frauen in der Familie konnten damit nie nach außen gehen. Es wurde gedeckelt, dieses Familiengeheimnis, gewachsen unter patriarchal-katholischem Druck. Mit der Kirche hat das nur am Rande zu tun, aber das gesamte Konstrukt hat seine Rolle gespielt.

Später beschäftigte ich mich mit der mangelnden Aufarbeitung von Missbrauchsfällen in den Kirchen. Missbrauch gab es nämlich in beiden – und ich bin überzeugt: Es gibt ihn immer noch. Auf mich wirkt es, als würde die evangelische Kirche sich hinter der katholischen wegducken. Für mich persönlich war das der Moment, einen Schlussstrich zu ziehen.

Andrea W.-G., 60 Jahre, Sozialpädagogin

Warum ich in der Kirche bleibe …

Ich bin 1989 geboren und in einer typischen Ostberliner Umgebung aufgewachsen, die durchgängig atheistisch geprägt war. Ich wurde als Kind nicht getauft, sondern habe selbst den Weg zur Kirche gefunden. Es hat schon in der Kindheit angefangen, dass ich mich irgendwie dahin gezogen gefühlt habe, ohne das mit Worten benennen zu können. Mein Weg in die Kirche wurde unterbrochen durch die Pubertät und die aufkommende Erkenntnis des Queerseins, meiner Homosexualität. Aufgrund von Stereotypen, die ich damals blind geglaubt habe, wie zur Homophobie in der Kirche, habe ich zunächst stark gehadert.

Mit Anfang 20 habe ich mich taufen lassen. In meiner damaligen Gemeinde hatte ich einen fabelhaften Pfarrer, der selbst auch homosexuell ist und mir aufzeigte, dass Kirche ganz anders sein kann. Meine Vorurteile bewahrheiteten sich nicht, und ich wurde unerwartet herzlich aufgenommen. Jetzt engagiere ich mich schon seit über elf Jahren in der evangelischen Kirche, habe ehrenamtlich beim Kon­fir­man­d*in­nen­un­ter­richt geholfen, bin Mitglied im Gemeindekirchenrat und unterstütze meine Kirche beim jährlichen Kirchentruck auf dem Berliner CSD.

Seit meiner Taufe gehe ich so gut wie jeden Sonntag in die Kirche. Die evangelische Kirche war ironischerweise für mich als junger, schwuler Mann der Ort, an dem ich mich am meisten angenommen gefühlt habe, gefördert wurde und wo mir die wenigsten Vorurteile begegneten. Das hatte ich zuvor und danach in dem Ausmaß in keiner anderen Community. Viele meiner Freun­d*in­nen sind nicht christlich, haben aber eine gewisse Offenheit und eine Akzeptanz gegenüber mir und meinem Glauben.

Die evangelische Kirche in Deutschland schreitet in vielen Themen, die mir wichtig sind, voran. Ich erlebe, dass sowohl die Basis in den evangelischen Gemeinden als auch die Kirchenleitungen mehrheitlich einen fortschrittlichen Kurs wagen. Es gibt einen Raum für Diversität und Meinungsvielfalt. Beispielsweise zum Angriffskrieg auf die Ukraine. Da gibt es sehr konträre Stimmen, von ultrapazifistischen Menschen, die jegliche Kriegsbeteiligung oder Verteidigungsunterstützung ablehnen, bis hin zu der EKD-Ratsvorsitzenden Annette Kurschus, die sagt, dass wir eine ethische Verpflichtung haben, die Ukraine bei ihrer Selbstverteidigung zu unterstützen. Auch das ist eine Form der Nächstenliebe. In meinen Augen leistet die evangelische Kirche einen Beitrag zu einer pluralistischen Gesellschaft. Ich kann durchaus verstehen, wenn Menschen aus der Kirche austreten, weil sie die Inhalte oder das Angebot nicht überzeugt. Nach meinem Verständnis gehört die Gemeinschaft in der Kirche zum Aus­leben des christlichen Glaubens dazu.

Neben dieser Diversitätsoffenheit hat die evangelische Kirche auch blinde Flecken. Während einerseits eine bemerkenswerte Öffnung für die LGBTIQ*-Community erreicht wurde, sehe ich mich im Gottesdienst und in vielen anderen kirchlichen Veranstaltungen meistens als einzige nicht-weiße Person. Ich kritisiere offen, dass die evangelische Kirche es nicht schafft, von ihrem gutbürgerlichen und akademischen, weißen Publikum abzurücken, und nicht auch andere Menschen anspricht.

Ich bin immer bereit, kritisch auf meine Kirche zu blicken. Es ist eine von Menschen getragene Institution, in der auch viele Fehler passieren. Ich bleibe ihr aber hochverbunden. Ein Kirchenaustritt kommt für mich nicht infrage, weil ich die Probleme lieber innerhalb der evangelischen Kirche angehen möchte. Ich will zur Veränderung beitragen, statt meiner Kirche den Rücken zu kehren.

Marko H., 34 Jahre alt, Leiter eines ­Abgeordnetenbüros

Warum ich mit meiner Kirchenmitgliedschaft hadere …

Getauft wurde ich mit eins. Seitdem bin ich in der Kirche. Kirche haben mir also meine Eltern mitgegeben. Austreten würde für mich daher auch ein Nein zu meinen Eltern, meiner Familie und ihrer Tradition bedeuten. Die Konfirmation habe ich noch mit Überzeugung gemacht. Ich fand es spannend, mich kritisch mit Religion auseinanderzusetzen. Von Gott hatte ich nicht die Vorstellung einer Person, an die ich glaube, sondern eher so ein Konzept, eine bestimmte Art Liebe, die alles verbindet. Ich mochte auch die zwischenmenschlichen Begegnungen in der Kirche und die Werte, die vor allem im Neuen Testament, in der Person Jesu, übermittelt werden.

Dadurch, dass ich im katholisch geprägten Münsterland aufgewachsen bin, hatte ich auch immer den Eindruck, dass es viel toller und progressiver ist, evangelisch zu sein. Frauen konnten Pfarrerinnen sein, und insgesamt war alles offener. Für mich war das eine Art Kompromiss zwischen dem, was ich denke, und dem, was gesellschaftlich erwartet wurde. Mein Bruder hat schon mit Beginn des Konfirmandenunterrichts der Kirche entsagt. Als Erstgeborene hatte ich mehr den Anspruch, „brav und gut“ zu sein und gesellschaftliche und familiäre Erwartungen zu erfüllen. Aber ich habe im Glauben auch in schwierigen Zeiten Trost gefunden.

Als ich als Erwachsene dann die Kirchensteuer gezahlt habe, habe ich neu über meinen Bezug zur Kirche nachgedacht. Die Kirche unterstützt viele gemeinnützige Dinge. In meinem Heimatdorf waren die meisten Gemeinschaftserlebnisse von der Kirche mitbegründet und ich war Teil des Kinderchors, der zu Feiertagen die katholische Messe begleitete, oder ich fuhr mit zur Oster-Skifreizeit, die von der katholischen Kirche finanziell unterstützt wurde. In meiner Wahrnehmung war die Kirche sehr lange eine wichtige gesellschaftliche Institution. Sie stopft auch heute noch einige der Löcher im sozialen Bereich, wo der Staat nicht genug macht, besonders für bedürftigere Menschen. Die Kirchensteuer sehe ich als sozialen Beitrag für die Gesellschaft, deren Teil ich bin.

Wenn ich jetzt noch mal die Wahl hätte, würde ich nicht in die Kirche eintreten, weil ich in meinem Alltag eigentlich kaum Berührungspunkte habe. Jetzt auszutreten fühlt sich aber an, als ob ich eine Tür zumache, die ich zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr nutzen könnte. Vor fünf Jahren bin ich Patentante geworden, da war ich froh, noch Kirchenmitglied zu sein. Aus der katholischen Kirche würde ich heute sofort austreten, bei der evangelischen Kirche sehe ich noch einige positive Sachen.

Andererseits war für uns sehr schnell klar, dass wir unseren Sohn nicht taufen lassen. Also wird die Tradition durch mich nicht weitergegeben. Trotzdem habe ich dieses unbestimmte Gefühl in mir, dass ich mich noch nicht lösen möchte, diesen Bruch nicht haben will. Ich merke auch heute noch, dass ich gerne in Kirchen gehe, einfach, weil ich sie schön finde. Auch an Weihnachten gehört der Besuch im Gottesdienst für mich noch dazu.

Tatiana S., 32 Jahre, Programmiererin