crime scene
: Was der Schwester angetan wurde

Ein Sarg fliegt von Saudi-Arabien nach Manila. In ihm befindet sich die Leiche einer jungen Frau, die ein Jahr zuvor die Philippinen verließ. Der Name allerdings, der auf dem Sarg steht, ist nicht ihr eigener, sondern der ihrer Schwester. Und diese Aurora Cabahug ist nicht tot, sondern eine sehr lebendige 21-Jährige, die in einer verschlafenen philippinischen Kleinstadt als Barsängerin ihr Geld verdient, von einer Karriere im internationalen Musikbusiness träumt und sich einstweilen um den zweijährigen Sohn ihrer großen Schwester Soledad kümmert, die im Ausland für die Familie Geld verdient. Die Familie, das sind nur noch die beiden Schwestern und das Kleinkind, denn die Eltern und der Bruder sind viele Jahre zuvor bei einem Feuer ums Leben gekommen.

Bis wir das alles über die weibliche Hauptfigur erfahren haben, vergeht einige Zeit; denn dieser im Original 2008 erschienene Roman des auf den Philippinen sehr bekannten Autors Jose Dalisay begleitet nicht nur Aurora, genannt Rory, dabei, wie sie sich auf den Weg macht, den Sarg der toten Soledad aus Manila abzuholen, sondern verweilt auch bei Nebenfiguren gern etwas länger.

Es ist ein bisschen so, als entfalte sich vor der Leserin eine narrative Mind Map, die sich wie ein Erzählkrake in alle Richtungen streckt. Das fühlt sich zunächst etwas eigenartig an, entfaltet aber nach einer gewissen Eingewöhnungsphase großen Reiz. Es ist ja gar nicht so, als würde die Erzählung abschweifen; vielmehr gehört es zu ihrer inneren Logik, das schicksalhafte und meist zufällige Ineinandergreifen all dieser Menschenleben dadurch fühlbar zu machen, dass sie allen Figuren den gleichen aufmerksamen Ernst spendet.

Auch von der männlichen Hauptfigur, einem Polizisten namens Walter, dem es obliegt, Rory zu begleiten, müssten wir im Grunde gar nicht so viel wissen, wie wir hier erfahren. Aber Walters längst vergangene Beziehung zu einer jugendlichen Prostituierten, die zum Ende seiner Ehe führte, wirft nicht nur ein Schlaglicht auf seinen einerseits ehrbaren, andererseits etwas schwachen Charakter, sondern beleuchtet wiederum eine weitere Facette der philippinischen Gesellschaft.

Jose Dalisay: „Last Call Manila“. Aus dem Englischen von Niko Fröba. Transit Verlag, Berlin 2023, 224 Seiten, 22 Euro

So entsteht, während ganz allmählich das Ausmaß von Soledads Tragödie deutlich wird und Walter und Rory sich im Gewirr von Manila behaupten müssen, ein breit angelegtes, atmosphärisch reiches Bild einer ziemlich desolaten Gesellschaft, deren Mitglieder unaufhaltsam auseinanderzustreben scheinen. Die Sehnsucht nach dem Ausland, die Millionen Menschen in die Arbeitsmigration treibt, wird nicht allein durch materielle Not angetrieben. Auch der Zusammenhalt der Menschen im Land lässt zu wünschen übrig. Rory und ihre verstorbene Schwester sind sich nie nahe gewesen; und auch Walter hat, in Manila angekommen, keine Ahnung gehabt, dass seine Mutter und Schwester dort schon längst nicht mehr in der alten Wohnung leben. Ihren letzten, vor Monaten angekommenen Brief hatte er nie geöffnet.

Dalisay zeichnet ein dichtes und düsteres Bild der Gesellschaft von Manila

Was der verstorbenen Soledad angetan wurde, werden wir nicht genau erfahren; aber da auch ihre Perspektive zur Geltung kommt, wissen wir irgendwann genug, um es uns ungefähr vorstellen zu können. Damit sind wir hier, abgesehen vom Autor, auch die einzigen. Und die Sache, die mit dem Sarg dann noch passiert, ist eine ziemlich groteske Metapher auf das Schicksal der Lebenden und der Toten in einer Welt, in der jeder Mensch nur um sich selbst zu kreisen scheint. Katharina Granzin