Furchtlose Menschlichkeit

Die Beschäftigung mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine spiegelt sich in einer Vielzahl aktueller Bücher wider. Der hervorragende Band „Aus dem Nebel des Krieges“ versammelt ukrainische Perspektiven

Alltag im Krieg: Menschen suchen Schutz in einer Metrostation in Kyjiw im Mai 2023 Foto: Alina Smutko/reuters

Von Marcus Welsch

Mit dem Sammelband „Aus dem Nebel des Krieges“ ist das vielleicht wichtigste Buch zur Gegenwart der Ukraine hierzulande erschienen. Es versammelt subjektive Beobachtungen zum ersten Kriegsjahr und wagt eine übergreifende Gegenwartbeschreibung. Es fällt vor allem die hohe literarische Qualität persönlicher Beschreibungen von ukrai­nischen Autorinnen und Autoren auf.

Gleich der erste Text „Spiegel der Seele“ ist ein großer Wurf. Wie Kateryna Mishchenko die ersten Kriegstage skizziert, lässt einem den Atem stocken. Wie sie am Fenster eines Freundes in Kyijw die ersten unfassbaren Momente der Raketenangriffe schildert, zeigt mehr als die eigene Fragilität. Sie evoziert ein ganzes Panoptikum an übergreifender Kommunikation, Traumbildern und Erinnerungen. In den Blicken zwischen den Frauen auf ihre Kinder in den Zügen zur Grenze öffnet sich eine ganze Welt unausgesprochener Gedanken.

Diese Qualität von Intersubjektivität zeichnet viele Texte in diesem Band aus. Denn während sie die Gewalt des Krieges zu bannen suchen und gleichzeitige mit der Überwindung von Sprachlosigkeit ringen, wird ein sehr eigenes Geflecht des Sozialen und der gesellschaftlichen Übereinkunft deutlich. In der Zeit nach der Revolution auf dem Maidan 2014 ist die Ukraine zu einem der interessantesten sozialen Mikrokosmen in Europa geworden, der unsere Aufmerksamkeit kaum erreicht hat. Daran schließen viele Texte an.

Die Filmregisseurin Oksana Karpovych transformiert jene Binnenbezüge der ukrainischen Gesellschaft literarisch. Sie will als Zeugin diese historischen Momente durch ihren Körper gehen lassen, auf deren Erinnerungsfähigkeit sie vertraut. Der Blick auf Soldaten und ausländische Journalisten, die gereizte Stimmung an den Checkpoints, die landesweite Umwandlung in ein riesiges Versorgungsnetz der Freiwilligen. Sie lässt nichts aus. Sie war in Butscha und stand unter Beschuss. Die offengelegten Innenräume der zerstörten Hochhäuser, der veränderte Geruch der Metro – all das zeigt das „Schlimmste und das Beste zugleich“: eine „furchtlose Menschlichkeit“.

In der ukrainischen Sprache gibt es für Menge und Finsternis ein und dassselbe Wort: Homonyma. Was die Herausgeberin Mishchenko über die ungezählten Verbrechen in diesem Krieg nachdenken lässt. Die Abfolge des Buches ist klug gewählt. Man gewinnt immer mehr an Orientierung, so als ob sich der Nebel doch lichtet.

Svitlana Matviyenko ordnet Strategien der Desinformation und Terror dieses Krieges ein. Stanislaw Assejew, der vielleicht wichtigste Buchautor zur Folter in den Gefängnissen des Donbass, entwickelt seine Idee von Gerechtigkeit.

Die Journalistin Nataliya Gumenyuk berichtet von erschütternden Erfahrungen der Menschen in den befreiten Gebieten. Die Aufbruchsstimmung in Mariupol nach 2014 wird mit der russischen Zerstörungswut 2022 in Verbindung gesetzt (Angelina Kariakina). Die Soziologin Oksana Dutchak vergleicht die prekäre Situation der Kinderbetreuung ihres Landes mit den neuen Herausforderungen vieler Frauen auf der Flucht nach Deutschland.

Allein diese prägnanten Binnendarstellungen wären schon den Kauf dieses Buches wert. Doch der Ansatz ist weiter gefasst. Viele Sachverhalte müssen transnational neu geklärt werden. Es gilt den imperialen Schrecken Russlands und seiner „Provinzia­lisierung“ neu zu analysieren. Und zwar ohne den „kolonialen Schimmer“, den man gerade hierzulande gütigst übersehen wollte. Ohne tiefgreifende Wende zu einem profunderen Blick auf Osteuropa kann man den entkolonialisierenden Diskurs auch hierzulande nicht mehr führen. Die Phantomgemeinschaft „postsowjetischer Raum“ ist am 24. 2. 2022 endgültig zerbrochen (Tamara Hundorova).

Katharina Raabe/Kateryna Mishchenko: „Aus dem Nebel des Krieges“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, 288 Seiten, 20 Euro

Dazu muss der alte ideologische Ballast im Westen abgeräumt werden. Karl Schlögel versucht das erneute Versagen deutscher Intellektueller seinen ukrainischen Freunden zu erklären. Die Charkiwer Philosophin, Gründerin des dortigen Zentrums für Gender Studies, wo die Aktivistinnen von Pussy Riot ihre ersten feministischen Bücher lasen, zerpflückt souverän so manche Lesart des Krieges und ungefragte Ratschläge westlicher Intellektueller. Die Äußerungen zur Ukraine von Jürgen Habermas, Judith Butler und Noam Chomsky lassen diese Autoren in der Kritik der Charkiwer Studentinnen regelrecht alt aussehen.

Die doppelte Fluch und Isolation der Flüchtlinge aus dem Donbass (Volodymyr Rafeyenko), Fragen der Verantwortung (Alissa Ganijewa) und der so ehrliche und frappierende Bericht des Schriftstellers und Familienvaters Artem Chapeye, wie er seinen jungen Söhnen erklärt, warum er nicht mit ihnen ins Ausland, sondern in den Krieg ziehen wird, führt uns die Dringlichkeit vor Augen, wie wir Europa neu denken müssen.

Man kann nur hoffen, dass diese kluge Textsammlung auch in anderen Sprachen erscheinen wird. Man muss sie einfach lesen.