Repression in Russland: Voranschreitende Radikalisierung

Willkür, Repression und eine rabiate Sprache zeigen: Die Stimmung im Russland wird immer rauer. Selbst in Unterhaltungssendungen zeigt sich das.

Video-Still mit Nawalny

Moskau, 31. Mai, Kreml-Kritiker Nawalny ist in einem Video in einem Moskauer Gericht zu sehen Foto: Moscow City Court/reuters

MOSKAU taz | Eine Tasse dürfe er dabeihaben, auch eine Zahnbürste. Selbst ein Buch sei in Ordnung in seiner Isolationszelle, lässt Alexei Nawalny, Russland Politikhäftling Nummer eins, über seine Anwälte mitteilen. Jene sechs Quadratmeter Raum samt Klappbett, die letztlich dafür da sind, um den Oppositionspolitiker, der derzeit seine neunjährige Haftstrafe absitzt, zu schikanieren. Oder wohl passender: zu brechen. Das geschieht auch mit immer weiteren Anklagen. Die neueste: wegen Gründung, Finanzierung und Beteiligung an extremistischen Organisationen, wegen Aufrufs zu Extremismus und Verharmlosung des Nazismus. Ihm drohen bis zu 30 Jahre Haft zusätzlich.

Die abermals absurden Vorwürfe sind in 196 Ordnern abgeheftet. Fast 4.000 Seiten Material, zu denen Nawalny selbst aber gar keinen Zugang hat. Denn die russische Gefängnisordnung sieht in Isolationszellen keine Anklageschriften vor. Nawalny weiß somit gar nicht, was gegen ihn vorliegt. An diesem Mittwoch sollte das Moskauer Stadtgericht verhandeln, ob er sich mit dem Material gegen ihn befassen dürfe. Doch die Sitzung wurde verschoben.

Letztlich aber ist es dem russischen Justizsystem völlig egal, wie viel Papier es produziert, was auf diesem Papier draufsteht, wie viele Leben es damit zerstört. Mit Festnahmen, den Verurteilungen und weiteren Gerichtsprozessen hat das System Putin, gegen das Nawalny und sein Team seit Jahren mit ihren Anti-Korruptions-Recherchen und politischen Organisationen (die mittlerweile aufgelöst sind) vorgehen, sein Ziel erreicht: Der redegewandte und einnehmende Nawalny ist aus der Öffentlichkeit verbannt. Da die repressiven Gesetze auch seinen Weggefährten die Hände binden, zumal in Zeiten des Krieges, ist er im politischen Leben kaltgestellt.

Wobei: Was heißt politisches Leben in Russland? Kritik am System, an Putin und seinem Kurs werden schnell als Präsidentenbeleidigung gesehen. Ein „Nein zum Krieg“ wird nicht selten zur „Diskreditierung der russischen Armee“, jeder, der das Vorgehen Russlands in der Ukraine auch nur in Frage stellt, gilt als „Verräter“. Im staatlichen Fernsehen finden sich selbst in Unterhaltungssendungen nationalistische Parolen.

An Verhandlungen kein Interesse

Moderatoren von Infotainment-Sendungen danken voller Inbrunst „unseren Jungs“ in der Ukraine und senden Bilder der „tapferen Helden“ bei ihrer „Verteidigung der Heimat“, die der Westen „seit 300 Jahren“ in die Knie zu zwingen versuche. Russische Einheiten, heißt es da, zerschlügen „Brigaden ukrainischer Banditen“ und durchbrächen die „Provokationen ukrainischer Saboteure“ – mag es sich dabei auch um russische Nationalisten handeln, die mit ukrainischem Kriegsgerät die Grenze nach Russland passieren und, wie kürzlich, Ortschaften in der südrussischen Region Belgorod terrorisieren.

Der offizielle Diskurs, auch wenn es letztlich kein Diskurs, sondern verhasst vorgetragene Feststellungen sind, radikalisiert sich immer mehr. Da fordert der Parlamentsvorsitzende Wjatscheslaw Wolodin 750 Milliarden Dollar „Kompensation“ von Polen, weil das Land angeblich die „historische Wahrheit verraten“ habe. Schließlich sei es die Sowjetunion gewesen, die Polen nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut habe.

Dmitri Medwedjew, einst selbst Kremlchef, fährt seine radikal-nationalistische Linie und stellt Versionen auf, die zum „Verschwinden der Ukraine“ führten: Am Ende würde der Westen der Ukraine unter den EU-Staaten „aufgeteilt“, der Osten und selbst das Zentrum würden sich für Russland entscheiden. „Andere Varianten gibt es nicht, das hat mittlerweile jeder verstanden“, so Medwedjew in seinem Telegram-Kanal. Britische Offizielle erklärt er zu „militärischen Zielen“, schließlich führe Großbritannien einen „unerklärten Krieg“ gegen Russland, wie er am Mittwoch auf Twitter schrieb.

Auch das Außenministerium hat seine Version, wie der „Konflikt in der Ukraine“ beigelegt werden könne. Vize-Außenminister Michail Galusin hatte dazu kürzlich in einem Interview mit der russischen Nachrichtenagentur Tass die Ukraine aufgefordert, die Kampfhandlungen einzustellen. Der Westen solle keine Waffen mehr liefern und die Ukraine zu einem „neutralen Blockstatus“ zurückkehren, der die neuen territorialen Realitäten anerkenne. Er unterstrich damit die Forderungen, die auch Präsident Putin immer wieder äußert. Es bliebe ein Diktatfrieden, denn Moskau besteht auf seinen Maximalforderungen. Von Verhandlungen will man nichts wissen.

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