Türkei vor der Stichwahl: Opposition im Dilemma

Der türkische Präsidentschaftskandidat Kılıçdaroğlu buhlt für die Stichwahl um Stimmen von weit rechts. Für seine linken Wähler ist das deprimierend.

Kemal Kilicdaroglu und Umit Özdag posieren für ein Foto

Ümit Özdağ am Mittwoch in Ankara mit Präsidentschaftskandidat Kemal Kılıçdaroğlu Foto: Alp Eren Kaya/ap

Ende der 1960er Jahre stellte der Intellektuelle İdris Küçükömer eine kontroverse These auf. In der Türkei sei „die Linke rechts und die Rechte links“. Daraus entwickelte sich über die Jahre ein Witz: „Die Linke ist in der Türkei rechts. Die Rechte … ist auch rechts.“ Und das spiegelt die aktuelle Lage vor der Präsidentschaftsstichwahl ganz gut wider.

Der 19. Mai wird in der Türkei als Geburtstag des Staatsgründers Atatürk gefeiert, eines Repräsentanten des Säkularismus, der immer noch als Gegenpol zu den 20 Jahren islamischer Herrschaft von Präsident Tayyip Erdoğan geschätzt wird. Im südlichen Istanbuler Stadtteil Kadiköy, einer Hochburg der Partei Cumhuriyet Halk Partisi (CHP), gibt es nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen, die vor fünf Tagen stattgefunden hat, nicht viel zu feiern.

Am Ufer des Marmarameers findet eine kleine Zeremonie statt. Aus einem verzerrt klingenden Lautsprecher ertönt eine Hymne aus den Gründungsjahren der Republik. Nur ein paar Dutzend Menschen haben sich versammelt. Kinder mit Luftballons mit türkischer Flagge schauen ihren Eltern zu, die ihrerseits teilnahmslos eine kleine Segelboot-Show betrachten.

Über ihren Köpfen prangt eine riesige Plakatwand, die am Vortag aufgestellt wurde. Darauf ist das Gesicht des CHP-Vorsitzenden und oppositionellen Präsidentschaftskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu zu sehen, begleitet von den Worten: „Wir. Werden. Alle. Syrer. Zurückschicken.“

Eine allzu einfache Rechnung

Diese Botschaft steht im krassen Gegensatz zur ersten Wahlkampagne von Kılıçdaroğlu. Da posierte er auf Plakaten unter Kirschblüten und versprach, dass „bald Frühling sein wird“. Entgegen aller Kritik sprach er sich für Pluralität aus, indem er eine Koalition aus fünf anderen Parteien anführte, die von ehemaligen Ministern der Erdoğan-Regierung bis hin zu verschiedenen Schattierungen rechter Parteien reichten. Dennoch schaffte es dieses Bündnis, die Stimmen der pro-kurdischen HDP-Anhänger zu gewinnen, die von der Regierungspropaganda seit Jahren als Terroristen abgestempelt werden.

Der plötzliche rhetorische Wandel Kılıçdaroğlus zielt darauf, bei der Stichwahl gegen Erdoğan die Stimmen der rechtsgerichteten Wählerschaft des Nationalisten Sinan Oğan zu gewinnen, der in der ersten Runde bei der Präsidentschaftswahl überraschend 5,2 Prozent der Stimmen holte und als Drittplatzierter jetzt nicht mehr im Rennen ist.

Kılıçdaroğlu hat zwar den Sieg von Erdoğan verhindert, aber er hat es nur knapp in die zweite Runde geschafft, obwohl ihn alle Umfragen im Vorfeld der Wahl vorne sahen. Die mangelhafte Bewältigung der Folgen des verheerenden Erdbebens im Februar und die hohe Inflation haben nicht die entscheidende Rolle gespielt, die sich die Opposition erhofft hatte. Erdoğan fehlte in der ersten Runde am Sonntag vor zwei Wochen nur etwas weniger als ein halbes Prozent für die absolute Mehrheit.

Kılıçdaroğlus CHP und ihre Koalitionspartner haben für die zweite Runde eine fast zu einfache Rechnung aufgestellt: Wenn sie nur die 5,2 Prozent von Sinan Oğan bekämen und Erdoğan knapp unter 50 Prozent bliebe, würden sie die Wahlen gewinnen – ein Wettlauf nach unten, mit Drift nach weit rechts.

Welcher graue Wolf bekommt was?

Die beiden Hauptakteure des rechtsnationalen Bündnisses, um dessen Wähler nun bei der Stichwahl gebuhlt wird, sind Sinan Oğan und der Vorsitzende der Zafer-Partei, Ümit Özdağ, beide ehemalige MHP-Mitglieder und graue Wölfe. Millionen von linken und kurdischen Wählern sahen zu, wie ihr Kandidat in den Bereich des Rechtsextremismus abglitt, während Oğan und Özdağ sich darum bemühen, den Stichwahlkandidaten Konzessionen abzuringen. Welcher graue Wolf würde welches Ministerium bekommen, wenn Kılıçdaroğlu oder Erdoğan gewinnt? So sieht die Zukunft der Türkei aus.

Mittwoch, vier Tage vor der Stichwahl, ein Gewitter zieht über die türkische Hauptstadt Ankara. Journalisten haben sich im Regen vor den Büros der rechtspopulistischen Zafer-Partei versammelt. Alle Sender übertragen live. Dutzende Reporter haben ihre Mikrofone auf der Bühne aufgestellt, auf der gleich eine Rede gehalten werden soll.

Das Mikrofon eines Reporters des kurdischen Nachrichtensenders K24 wird vom Sicherheitspersonal blockiert und weggeschoben. Die Sitzung dauert länger als erwartet. Nach einer Weile tauchen Ümit Özdağ, der Vorsitzende der Zafer-Partei, und Kemal Kılıçdaroğlu auf, sie stehen Seite an Seite. Währenddessen stellt sich Sinan Oğan hinter Erdoğan.

Özdağ ist ein Angstmacher, dessen politische Rhetorik sich nur auf zwei Themen stützt: Alle Migranten zurück in ihre Länder zu schicken und den politischen Willen der Kurden zu unterdrücken. Im April sprach Özdağ vor laufender Kamera mit einer jungen Frau, die er auf der Straße traf. Als sie sagte, sie werde für die HDP stimmen, antwortete Özdağ: „Oh, aber du siehst gar nicht aus wie eine Mörderin.“

Wie reagieren kurdische Wähler?

Nun kündigt Özdağ seine Unterstützung für Kılıçdaroğlu unter der Bedingung an, dass dieser verspricht, die Türkei „von mehr als 13 Millionen Flüchtlingen zu befreien“. Die tatsächliche Zahl der Migranten ist weniger als halb so hoch. Und sie sind auch nicht der Hauptgrund für die wirtschaftliche Not der Menschen.

Aber Özdağs Erklärung ist einfacher: „Das ist der einzige Weg, um unsere Straßen sicher und die Mieten bezahlbar zu machen, damit unser Land nicht zu Migrantistan wird.“ Die Menschen in der Menge skandieren: „Ümit, der graue Wolf!“ Kılıçdaroğlu steht neben ihm, schweigend und verdruckst lächelnd.

Für viele ist es deprimierend, Kılıçdaroğlu in einer solchen Lage zu sehen. Die fünf Städte mit dem höchsten Stimmenanteil für Kılıçdaroğlu waren allesamt kurdische Städte. Nun sollen die HDP-Wähler für eine Koalition stimmen, deren neuer Koalitionspartner ein radikaler Nationalist ist, der offen antidemokratische Praktiken in den kurdischen Städten fortsetzen will.

Als Druckmittel wollte er Kılıçdaroğlus Zusage, dass gewählte Bürgermeister im Osten weiterhin vom Staat abgesetzt und durch ernannte Beamte ersetzt würden.

Ein Hauch Hoffnung

Kılıçdaroğlu befindet sich vor der Stichwahl in einer schwierigen Lage. Abgesehen von den nationalistischen Stimmen hofft er, dass die acht Millionen Nichtwähler jetzt in der zweiten Runde zur Wahl gehen. Aber die Wahlbeteiligung lag bereits vor zwei Wochen bei 87 Prozent. Zum Vergleich: Bei der letzten Bundestagswahl lag die Wahlbeteiligung in Deutschland bei 76,6 Prozent.

Bei einer Pressekonferenz appellierte die HDP-Ko-Vorsitzende Pervin Buldan trotz Kılıçdaroğlus Rechtsruck, zur Wahl zu gehen, „um Erdoğans Ein-Mann-Herrschaft zu beenden“. Aber es ist durchaus möglich, dass einige kurdische und linke Wähler angesichts dieses Rechtsrucks nicht zur Wahl ­gehen werden.

Trotzdem ist die Hoffnung auf ein Ende des autokratischen Regimes von Erdoğan noch da, und obwohl die Chancen gering sind, ist ein Wechsel immer noch möglich. Aber wenn Kılıçdaroğlu verliert, dann hat er verloren, während er versucht hat, mehr wie Erdoğan zu werden.

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