Simply the Best

Ein pralles Leben, mit unbedingter Selbstbestimmtheit geführt, öfter als nötig auferstanden aus Ruinen: Eine Verneigung vor der großen Pop-Ikone Tina Turner, die am Mittwoch mit 83 Jahren gestorben ist

Von Jan Feddersen

Im Nachhinein, jetzt, im traurigen Moment, wenige Stunden nach ihrem Tod, mit dem Signal, dass sie wirklich niemals mehr auf eine Stadionbühne irgendwo in der Welt stehen wird, scheint es, als hätte es ja so kommen müssen, ihr Leben, so monströs erfolgreich und lebenssatt. Am Ende ist alles wie zu einem harmonisch geschlossenen Kreis geworden: So ließe sich Tina Turners Leben erzählen, und so war es natürlich nicht.

Dass ihre Karriere so fulminant verlief, hat eben damit zu tun, dass sie, geboren als Anna Mae Bullock in Brownsville im US-Südstaat Tennessee, durch solch tiefe Täler (des Lebens schlechthin) gehen musste, um schließlich das stets Unwahrscheinliche zu schaffen: zu überleben – und dabei zu zeigen, was sie künstlerisch drauf hatte. Und wie!

Am wenigsten hätte irgendjemand Anfang der 1980er Jahre darauf gewettet, dass sie noch mal so richtig hochkommen würde. Da war sie eine Frau von über 40 Jahren, eine Sängerin mit bereits beeindruckender künstlerischer Vita.

Aufgewachsen war sie in einem Landstrich der USA, in dem schwarze Menschen rund um die Uhr Gefahr liefen, rassistischer Gewalt ausgeliefert zu sein, eine amerikanische Vorhölle für Menschen mit nichtweißer Hautfarbe wie sie, eine Umwelt, in der kriminelle Banden wie der Ku-Klux-Klan den Ton mit angaben. Als Tochter von keineswegs armen Bauern, so sagte sie einmal in einem Interview, war sie nicht dafür bestimmt, das alles auszuhalten – sondern wegzugehen, in die Stadt. Weg aus der Provinz und von den Baumwollfeldern, auf denen sie, in der Obhut ihrer Großmutter in Nutbush, es hasste, zu arbeiten.

Sie wurde Sängerin. Ihre Stimme, so hört es sich auf alten Aufnahmen an, schon damals rau, röhrig, elektrisierend, wie viele ihre Vokalisen [Musikstücke, die nur auf Vokale, ohne Worte, gesungen wird, d. Red.] beschrieben. Jedenfalls ohne den Schmelz der Motown-Soulproduktion (mit Dia­na Ross, unter anderem). Tina Turner war mehr Rock ’n’ Roll, von intensivster Härte in allen Facetten ihres stimmlichen Ausdrucks.

In Ike Turner, Bandleader einer schwarzen Rhythm-’n’-Blues-Formation, fand sie ihren Anker: ein Musiker von Gnaden wie sie. Nicht gerade eine Hitmaschine, aber er machte sie zu seiner Leadsängerin: Ike & Tina Turner, so lautete das Label beider, mit dem sie ihre regionalen Limits überschritten: „Nut Bush City Limits“ hieß einer ihrer wenigen Hits, an den alten CCR-Song „Proud Mary“ trauten sie sich auch erfolgreich heran – da und dort kleinere Chartnotierungen, ansonsten waren sie keine Sonny and Cher, die Darlings der hippiesk gesinnten Mainstream-68er in den USA.

Ihre Stimme – ein betörendes Angebot, eine Verführung, der gewissen Traurigkeit nicht über den Weg zu trauen

Entscheidend war in jener Zeit für Tina Turner, dass sie dem Produzenten Phil Spector auffiel: Er wollte seine Idee vom „Wall of Sounds“, von der Kraft der opulenten Arrangements, auch an Tina Turner exekutieren – aber nur mit ihr, nicht mit Ehemann Ike. Mit „River Deep Mountain High“, so sagte Ms. Turner viel später, habe Spector ihr ein Juwel für lange Zeit in die Schatulle des Lebens gelegt: Nie war Spector als Produzent einer Aufnahme besser, selten bis dahin war Tina Turner in ihrem Potenzial erkennbarer. Es ist ein Tondokument, das bis heute nichts an Verstaubtheit aufweist.

Anfang der 70er kriselte die Ehe der Turners stärker, so ist es in Büchern zu lesen. Vor allem ist zu sagen, dass Ike Turner, drogenabhängig, ein Mann alter Schule war, gewohnt, Frauen zu misshandeln, zu benutzen, sie als seinen Besitz zu verstehen. Er zwängte sie immer mehr ein. Am Ende, auch das gehört zur Geschichte der Kraft jener Anna Mae Bullock, aus der Ms. Turner, dann „Tina–The Best“ wurde, zählt, dass sie sich entschloss, ihn zu entlassen, und das mit allen Konsequenzen, hohen Schulden, wenigen Cents im Portemonnaie und einer Tankkarte für ihr Auto.

Sie ging auf die 40 zu, ein Alter, das für die meisten wie sie und ihre Kolleginnen karriereperspektivisch den Tod verhieß. Aber sie sagte: Ich musste nicht überleben, denn ich war ja schon tot – ich wollte nur meine Freiheit, über mich selbst bestimmen, herausfinden, was ich eigentlich noch wollen könnte.

Sie unternahm so gut wie alles, um über die Runden zu kommen, auch, um sich vor den Nachstellungen des verlassenen Ike Turner zu retten. Der sagte nur: Mein Auto läuft nicht, mein Motor ist weg – soll ich jetzt schieben? Er musste, Tina Turner war ihm buchstäblich überlegen. Sie versuchte es auch mit Disco, hatte ein paar Plattenaufnahmen, aber vor allem Auftritte auf der Bühne, manchmal vor kaum 100 Leuten.

Anfang der 80er Jahre kam Roger Davies in ihr Leben, ein Musikmanager, der an sie glaubte – und der von Freunden deshalb für bekloppt gehalten wurde: Tina Turner? Ein Oldie. Es war die Zeit der beginnenden Syntheziserisierung des Pop, die Eurythmics, Yazoo, viele andere Bands kamen nicht mehr mit Rockbombast, mit dem ästhetischem Pseudosiegel von Echtheit versehen.

Davies schlug ihr zunächst vor, den alten Al-Green-Klassiker „Let’s Stay Together“ einzusingen: Und das genau war nicht ihr Ding. So einen artifiziellen Mist soll sie singen, dieses Lied in seiner zeitgenössischen Verschnulzung? No way! Er beharrte darauf, dass sie sich trauen möge – und sie tat es. Der Rest ist Geschichte. Der Aufstieg, ohne dass dies schon ganz absehbar wurde, begann. Ihre Stimme auf dieser Nummer – ein betörendes Angebot, eine Verführung, der gewissen Traurigkeit nicht über den Weg zu trauen, denn sie, die da singt, kann auch ganz anders!

Sie war der Beweis, dass im Pop­geschäft auch jenseits der jungen Jahre noch viel geht: Tina Turner bei ihrer aller­letzten Tournee, London 2009 Fotos: Stefan Wermuth/reuters

Tina Turners Al-Green-Nummer wurde vernommen, nicht die Nummer 1 in den Hitparaden, weder in den schwarzen noch in den weißen Charts, aber zur Kenntnis genommen von der Musikindustrie und dem Publikum.

Das daraufhin produzierte Album „Private Dancer“ wurde der Goldschatz schlechthin für ihre Karriere: Sie inzwischen im modernen Style, eine, gemessen an den jungen Frauen im Popgeschäft, alte Frau, frivol im Look, auf High Heels, auf denen offenbar niemand so gehen konnte wie sie – trainiert ist trainiert! Hits wie „What’s Love Got to Do with It“, „Better Be Good To Me“, „Show Some ­Respect“ oder der Klassiker „I Can’t Stand The Rain“.

Was wie grandioser Pop klang, hörte sich zugleich für ihr Publikum wie Tina Turners Autobiografie in Liedform an: gewaltig, unbezwingbar, kraftvoll und zugleich charmant.

Wer sie in jener Zeit direkt auf der Bühne sah, konnte nur denken: Was für eine wahnsinnige Show da oben stattfindet, buchstäblich mitreißend, „total und sofort“, wie es einmal in einer Besprechung in der New York Times hieß. Ihre Titel, auch später, hatten Namen wie aus einer Coachingfibel für den Kampf gegen das Verschwinden und für das Überleben in rauen Zeiten: „Break Every Rule“, „We Don’t Need Another Hero“ und vor allem die selbstsuggestive Formel namens „(Simp­ly) The Best“.

Ihr Erfolg holte auch andere Goldies der 60er Jahre aus den Tälern des beginnenden Vergessens: die Rolling Stones oder auch David Bowie. Tina Turner, sie war der Beweis, dass da im Pop- und Rockgeschäft jenseits der jungen Jahre noch viel geht: Sie in der Rolle auch der erotisch selbst aufgeladenen, sich auf der Bühne genießenden, souveränen Künstlerin, die bei ihrer aller­allerletzten Tournee Ende 60 war – und damit dreimal so alt wie ihre Mittänzerinnen auf der Bühne, wobei Letztere nach den Shows erschöpfter wirkten als Turner selbst.

Ein pralles Leben, öfter als nötig auferstanden aus Ruinen, eine feministisch unbedingt naheliegende Ikone, eine Königin mit selbst geschaffenem Reich, eine Frau, die das Maracana-Stadion in Rio de Janeiro mit 180.000 Leuten füllte, die in erfolgreichen Blockbuster-Filmen mitspielte („Mad Max“) – eine Institution der globalen Popwelt, die anzeigte, dass sich aus dem Schutt des Lebens, der sich bisweilen vor einem auftürmt, sehr viele schöne Häuser bauen lassen.

In Zürich lebte sie die letzten Jahre, immer kränker werdend, an den Folgen eines Schlaganfalls laborierend, dem Buddhismus intensiv zugeneigt, in dieser Religion einige Alben mit anderen noch aufnehmend. Sie hatte in dem Kölner Musikmanager Erwin Bach, wie es überliefert wird, einen Mann, der sie nicht schurigelte.

In Küsnacht, auf ihrem Anwesen in Zürich, ist sie am Mittwoch im Alter von 83 Jahren gestorben.