Porphyr Steinbruch und eine italienische Flagge vor einem Haus

Foto: Judith Eisinger

Organisiertes Verbrechen im Trentino:Die Mafia im Dorf

Die italienische Gemeinde Lona-Lases bei Trient steht still, seitdem eine Polizeioperation Unterwanderung durch die Mafia und Korruption ans Licht brachte.

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24.5.2023, 11:54  Uhr

Die Busfahrt von Trient nach Lona-Lases im Cembratal dauert eine halbe Stunde und fühlt sich an wie eine Kaffeefahrt: Altersdurchschnitt über 60, die Signora auf der anderen Seite vom Korridor scrollt durch Facebook, und irgendwann werden resolut alle Kippfenster geschlossen, „sonst bekommen wir einen Zug“. Draußen zieht die Dreifaltigkeit der Alpen vorbei: grüne Wiesen und Wälder, felsgraue Bergspitzen, blauer Himmel. Doch die idyllische Kulisse ist Schauplatz eines kleinen Politdramas.

Am 15. Oktober 2020 schlugen die Carabinieri zeitgleich im Trentino und in Kalabrien zu und verhafteten 19 Personen. Die Anklage: Mitgliedschaft in einer mafiösen Vereinigung, Erpressung, Gewalt und Stimmenkauf, aber auch Versklavung von Ar­bei­te­r:in­nen und illegaler Waffenbesitz. Das italienische Antimafiakriminalamt DIA hob hervor, dass zum ersten Mal eine feste Gruppe der ’Ndrangheta, ein sogenanntes locale, in der Region Trentino-Südtirol festgestellt wurde.

Die Ermittlung trug den Namen „perfido“ und verwies damit auf die Gesteinsart Porphyr, die um Lona-Lases in großem Stil abgebaut wird. In dieses Geschäft hatte sich die Mafia gezielt eingeschlichen. Von den 19 Verhafteten wurden 3 in erster Instanz zu insgesamt 28 Jahren Haft verurteilt, einer wurde freigesprochen. Zwei weitere Angeklagte einigten sich zuerst auf eine Verständigung mit dem Gericht, die aber vom Kassationsgerichtshof für ungültig erklärt wurde. Für die übrigen Angeklagten läuft der Prozess noch.

Hinter dem Rathaus von Lona-Lases ragt ein Porphyrsteinbruch hervor, dessen rötliche Steinstufen sich deutlich von dem bewaldeten Hang abheben. Mittags um 13 Uhr ist es ruhig im Rathaus, die Lichter auf den Fluren sind aus. Marco Ga­lvagni ist der Einzige, der nicht zur Mittagspause außer Haus ist. „Ich gehe nicht in das Café nebenan“, sagt er, „aus Gewohnheit. In zwanzig Jahren war ich vielleicht zwei-, dreimal dort.“ ­

Marco Galvagni, Gemeindesekretär

„Alle reden von Menschen von außerhalb, aber das sind in jeder Hinsicht Trentiner“

Galvagni kommt aus Trient, er ist seit 2002 Gemeindesekretär und damit ranghöchster Beamter in Lona-Lases, zu seinen Aufgaben gehören die Leitung des Personals und die Teilnahme an Gemeinderatssitzungen. Niemand kennt die Lage im Ort so gut wie er. Die Mittagspause im Café vermeidet er aus Prinzip, genauso wie er nicht mit den örtlichen Un­ter­neh­me­r:in­nen essen geht. Denn gerade in so einem kleinen Ort, sagt er, „spielt sich im Grunde alles an der Bar ab“. Er will seine Unabhängigkeit bewahren. „Für mich war es immer wichtig, eine absolut neutrale Position einzunehmen.“

Schon Jahre vor der Operation Perfido fielen ihm einige Ungereimtheiten in Lona-Lases auf, vor allem Interessenkonflikte. 2019 beschäftigte sich auch der ständige Antimafiauntersuchungsausschuss des italienischen Parlaments mit mafiösen Infiltrierungen im Porphyrsektor. Damals sagte Galvagni aus: „Im Jahr 2010 hatte ich zufällig Zugang zu einer Datenbank der Handelskammer und begann, die Verbindungen zwischen den [Porphyr-]Unternehmen zu überprüfen. Ich entdeckte, dass die Unternehmen des Sektors alle miteinander verbunden waren.“ Ab 2013 war Galvagni auch für die Korruptionsprävention in seiner Gemeinde verantwortlich. Also schrieb er einen Antikorruptionsplan für Lona-Lases und schlug Gegenmaßnahmen vor. „Infolge dieser Aktivitäten wurde ich, um es milde auszudrücken, in meiner Arbeit behindert“, sagt Galvagni trocken; so wurde beispielsweise ein Disziplinarverfahren wegen seiner Abwesenheit bei einer Sitzung eingeleitet, obwohl er sich bei einer zeitgleich stattfindenden anderen Sitzung befand.

Galvagni erzählt seine Geschichte nicht zum ersten Mal, in den örtlichen Medien sorgte die Aufdeckung der Mafia-Gruppierung in dem kleinen Ort für Schlagzeilen. Doch sie kam nicht aus heiterem Himmel: Noch vor der Operation Perfido war die regionale Sektion des Antimafiavereins Libera vor Ort. Die gewerkschaftsähnliche Gruppe Comitato Lavoro Porfido (CLP) hatte sie über beunruhigende Vorgänge in den Steinbrüchen informiert: Ausbeutung, Schwarzarbeit, fehlende Lohnzahlungen. Also organisierte Libera öffentliche Veranstaltungen, um die Zustände in den Steinbrüchen des Cembratals zu thematisieren. Die Reaktionen in Lona-Lases beschreibt Chiara Simoncelli, Präsidentin von Libera Trentino, so: „Der CLP wurde als der übliche Zerstörer angesehen, als Schlechtredner, Übertreiber, als jemand, der Dinge sieht, die es gar nicht gibt.“

„Wenn man diese Sachen macht, muss man damit rechnen, dass man allein arbeitet“, sagt ­Galvagni an seinem Schreibtisch im Rathaus von Lona-Lases. Er hat Ringe unter seinen freundlichen, hellblauen Augen. Während er spricht, hält er die entsprechenden Unterlagen auf seinem Computer bereit. Er schiebt die schwarz gerahmte Brille auf seine Glatze, um sich müde die Augen zu reiben. „Die Situation ist besorgniserregend, sehr besorgniserregend“, sagt er. „Ich habe festgestellt, dass es selbst in der öffentlichen Verwaltung im Trentino mafiaähnliche Dynamiken gibt.“ Dass Staatsanwält:innen, Po­li­zis­t:in­nen und Be­am­t:in­nen mit zwielichtigen Gestalten essen gingen. „Es kann nicht sein, dass die Trentiner Behörden auf Kontrollen verzichtet haben, auch im Austausch gegen Wählerstimmen.“ Im Dezember 2022 fiel das erste Urteil infolge der Operation Perfido, das die Unterstützung von Politikern im Austausch für Gefälligkeiten gerichtlich bestätigt.

2 Frauen gehen über einen Kopfsteinpflasterweg in einer Altstadtgasse

Postkarten­idyll mit dunklem Geheimnis: Trient in der Region Trentino-Südtirol Foto: Judith Eisinger

Hier legt Galvagni den Finger in die Wunde: Die ’Ndrangheta breitete sich nicht nur im Porphyrgeschäft aus, sie infiltrierte gezielt die örtliche Verwaltung und Politik. So sagte der regionale Antimafiastaatsanwalt Sandro Raimondi 2020: „Es wird deutlich, wie die schrittweise Unterwanderung der Lokalpolitik durch das Einführen von Clan-Mitgliedern in die kommunalen Führungsgremien von Lona-Lases mit dem offensichtlichen Ziel geplant wurde, deren politische und administrative Aktivitäten zu beeinflussen. In diesem Zusammenhang wurde nicht nur ein dichtes Netz von Kontakten zu verschiedenen Bereichen der Zivilgesellschaft (Unternehmen, Institutionen, Politik) geknüpft, sondern auch einigen Kandidaten Wahlunterstützung angeboten.“

Lona-Lases ist aus mehreren Gründen besonders anfällig für diese Unterwanderung. Auf der einen Seite lockt der Porphyrabbau mit hohen Gewinnen, noch dazu liegt die Vergabe der Konzessionen für die öffentlichen Steinbrüche in der Hand der 900-Einwohner-Gemeinde. Um Bürgermeister zu werden, braucht man nur eine begrenzte Anzahl an Stimmen – wer hier eine Wahl beeinflussen will, hat es leichter als in einer Millionenstadt wie Mailand. Noch dazu war für die Ein­woh­ne­r:in­nen des Trentino die Mafia ein weit entferntes Problem. „Man hat mit der Vorstellung gelebt, dass wir aus dem Trentino kommen, dass wir die Guten sind, dass sie (die Mafiosi; Anm.d. R.) an uns nicht vorbeikommen, dass sie hier nicht bleiben, dass sie nicht da sind, weil wir besser sind als andere“, so Galvagni.

Chiara Simoncelli, Antimafia-Aktivistin

„Der stillen Mehrheit gehen die, die sich gegen die Mafia engagieren, auf die Nerven“

Doch letztlich zeigten sich einige Un­ter­neh­me­r:in­nen in Lona-Lases den Mafiosi gegenüber nicht abgeneigt. Mit ihnen zusammenzuarbeiten bedeutete kurzfristig geringere Personalkosten – indem beispielsweise die Ar­bei­te­r:in­nen des Steinbruchs extrem ausgebeutet und mit körperlicher Gewalt eingeschüchtert wurden. Was hinter den niedrigen Kosten steckte, wollte so mancher vielleicht gar nicht so genau wissen. Auch hier waren die Anzeichen schon vor der Operation Perfido da: 2014 wurde der chinesische Porphyrarbeiter Hu Xupai in einem Steinbruch brutal geschlagen, er erstattete mit Unterstützung des CLP Anzeige, 2019 war auch die letzte gerichtliche Instanz da, die die Täter schuldig sprach. Einer der Verurteilten wurde in der Operation Perfido erneut verhaftet. Laut Medienberichten hat er die Entschädigung an Hu Xupai bis heute nicht gezahlt. Bei diesen Dynamiken ist Galvagni eines besonders wichtig: „Alle reden von Menschen, die von außerhalb kommen, aber das sind in jeder Hinsicht Trentiner, ob sie seit 30 Jahren hier sind oder seit drei Jahren.“

Beim Rückweg vom Rathaus zur Bushaltestelle lassen sich ebenjene Tren­ti­ner:in­nen nicht blicken. Es geht an einer recht verwaisten Ampel vorbei, an der Fuß­gän­ge­r:in­nen die Landstraße überqueren könnten, dann an einer Postfiliale mit einem altmodischen, gelben „Posta“-Schild vor der Tür, und zuletzt an einem Supermarkt (geschlossen). Lona-Lases ist so ruhig und unscheinbar wie wohl jeder andere Ort in den Trentiner Bergen mit weniger als tausend Einwohner:innen. Antimafiaaktivistin Simoncelli beschreibt eine Bürgerschaft, in der nur wenige Lust haben, über die Mafia-Verbindungen zu sprechen, und die in zwei Gruppen aufgeteilt ist: „Diejenigen, die sich stark engagieren und von den anderen, der stillen Mehrheit, als die angesehen werden, die allen auf die Nerven gehen und übertreiben.“

Selbst Bürgermeisterkandidat Pasquale Borgomeo hat die Mafia anfangs nicht im Trentino vermutet. Als der Ex-Polizist 2013 von seiner Heimat Neapel nach Trient versetzt wurde, erschien ihm alles ruhig. Doch dann bemerkte er Anzeichen, allen voran den Drogenhandel. „Wo Drogen sind, bestehen Interessen, da steckt eine Menge Geld dahinter.“ Der Drogenhandel sei wie ein Lackmustest für die Präsenz von organisierter Kriminalität, er zeigt an, ob diese im jeweiligen Gebiet vorhanden ist. „Ich konnte es spüren. Es gibt keinen Vergleich zwischen dem Ort, aus dem ich komme, und dem, wo ich mich befand, aber die Anzeichen waren da“, sagt Borgomeo, während er eine Woche vor der Wahl einen Espresso an einem Cafétischchen auf der Piazza di Fiera in Trient trinkt.

ein Mann mit Glatze steht in einer Jacke in einem Raum

Gemeindesekretär und Mafiagegner Marco Galvagni Foto: Judith Eisinger

Sein neapolitanischer Dialekt ist unverkennbar, es ist ein Dialekt, der sich in seiner Bildhaftigkeit zum Geschichtenerzählen eignet. Und Borgomeo hat viele Geschichten aus seinen Jahren im Polizeidienst zu erzählen, auch komische – von unverbesserlichen Kriminellen und aufgebrachten Priestern. In Neapel war Borgomeo als Polizist in der „Falken“-Einheit auf dem Motorrad gegen die Straßenkriminalität im Einsatz. Lona-Lases kannte er bis zur Operation Perfido kaum. „Ich war ein paar Mal mit meiner Frau dort gewesen. Wir haben es als einen schönen, ruhigen, friedlichen Ort wahrgenommen, ganz anders als die Orte rund um Neapel“, sagt er. Dass er mit 60 Jahren als Bürgermeister in einem Dorf im Trentino kandidieren würde, hätte er nie gedacht.

Es kam dazu, weil die letzten drei Wahlanläufe in Lona-Lases ins Leere liefen. Der letzte Bürgermeister des Ortes, der im September 2020 nur wenige Wochen vor der Operation Perfido das Amt antrat, warf nach acht Monaten das Handtuch. Nicht nur wegen der Aufdeckung der Mafia-Infiltrationen, die Lona-Lases wie ein Tsunami traf, sondern auch wegen verwaltungstechnischer Schwierigkeiten. „Wir sind am Ende unserer Kräfte“, fasst Galvagni es zusammen. „Wenn hier einer krank wird, können wir das Rathaus zumachen.“

Es fehlten Buchhalter:innen, Landvermesser:innen, Sachbearbeiter:innen, wie in vielen kleinen Gemeinden in der Region. Daran hat sich bis heute kaum etwas gebessert. „Wir haben eine Stelle für einen Landvermesser ausgeschrieben und hatten eine einzige Bewerbung. Jetzt warten wir auf eine Zusage dieser Person“, sagt der Interimsbürgermeister Alberto Francini am Telefon. Er leitet Lona-Lases kommissarisch seit November 2022, zuvor war er Polizeipräsident in Trient, er brachte Borgomeo ins Spiel.

Nord-Süd-Gefälle Laut der Stiftung Openpolis wurden in Italien zwischen 1991 und 2021 insgesamt 371 Gemeinderegierungen wegen Mafia-Unterwanderung aufgelöst, davon manche mehrfach. Rund 90 Prozent dieser Gemeinden liegen in den Ursprungsregionen der drei großen italienischen Mafia-Organisationen: Kalabrien, Kampanien und Sizilien. Insgesamt gibt es rund 7.900 Kommunen in Italien. In 11 der 20 italienischen Regionen kam es zu derartigen Vorfällen, in der Region Trentino-Südtirol bisher noch nicht.

Alarmsignal Openpolis analysiert die Berichte des italienischen Innenministeriums, in denen auch Gemeindeauflösungen, die nichts mit Mafia-Unterwanderungen zu tun haben, aufgelistet sind. Die Stiftung merkt an, dass die Kommunen häufig erst aus anderen Gründen aufgelöst würden und dann ein paar Jahre später wegen Mafia-Infiltrationen. „Der Rücktritt des Bürgermeisters oder der Gemeinderatsmitglieder kann daher in einigen Fällen das Alarmsignal für eine Situation sein, die komplexer ist als nur eine politische Meinungsverschiedenheit.“

Führungslos Im Jahr 2021 mussten 50 Gemeinden nach Mafia-Infiltrationen von Interimsbürgermeistern geleitet werden, mehr als die Hälfte davon hat weniger als 10.000 Ein­woh­ne­r:in­nen und nur eine einzige mehr als 100.000.

Gegenmittel Die Übergangsgemeinderäte verabschieden in den meisten Fällen neue Gemeindeordnungen und ergreifen Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung.

Die beiden kannten sich über die Polizeiarbeit. So schlug Francini Borgomeo im Dezember 2022 vor: Lass dich in Lona-Lases aufstellen. Durch die Arbeit in Neapel hat Borgomeo reichlich Erfahrung im direkten Kontakt mit Mafia-Zugehörigen, was ihm die Aufgabe hätte erleichtern können. „Dass in Lona-Lases niemand kandidieren wollte, hat auf jeden Fall mit der Präsenz der ’Ndrangheta zu tun“, sagt Francini.

Die Kandidatur ist Borgomeos erste politische Erfahrung, noch dazu in einem Ort, den er kaum kennt. Ein paar Tage vor der Wahl sagt er: „Schon in Neapel habe ich 80 Männer in einer Spezialabteilung geführt. Ich habe das immer mit dem gesunden Menschenverstand eines guten Familienvaters gemacht, denn es gibt hier kein Rezept, sondern nur Erfahrung und die Fähigkeit, die Dinge auf angemessene Art zu leiten, ohne sich von Enthusiasmus oder Panik hinreißen zu lassen.“

Nachdem er seine Kandidatur Ende April öffentlich gemacht hatte, war er mehrfach in Lona-Lases. „Um das Gebiet ein bisschen kennenzulernen, um zu versuchen, dort, wo sie mich noch nicht kennen, mit den Leuten zu reden. Um ihre Emotionen in dieser Angelegenheit zu spüren.“ Sein Eindruck ist: Die Bür­ge­r:in­nen von Lona-Lases sind von der Geschichte zutiefst verletzt. „Sie haben ein tiefes Unbehagen für diese Situation, weil sie das Gefühl haben, dass sie als Angehörige der ’Ndrangheta gebrandmarkt werden.“ Dabei gehöre der Großteil der Ein­woh­ne­r:in­nen ja nicht zur Mafia.

Der Gemeindesekretär Galvagni geht mit den Menschen von Lona-Lases weniger gütig ins Gericht. Er sagt: Das Verhalten der mafiösen Un­ter­neh­me­r:in­nen ist nicht zurückgewiesen worden, sondern wurde als nützlich empfunden. Die Mafiosi arbeiteten „in Symbiose mit den Unternehmen und waren bereits seit dreißig Jahren tätig. Das lässt Zweifel an den Kontrollen aufkommen, und wie die Ermittlungen ergaben, gingen diejenigen, die eigentlich kontrollieren sollten, Hand in Hand“ mit den Kriminellen.

Tatsächlich geht das Antimafiakriminalamt DIA davon aus, dass sich die ’Ndrangheta bereits in den 70er Jahren in Trentino-Südtirol einnistete. Die Emigration vieler Ka­la­brie­r:in­nen Richtung Norden „erleichterte die Einschleusung von Personen, die der (’Ndrangheta;, Anm.d. R.) nahestanden und die die günstige geografische Lage der Region auf der Verbindungsachse Italien–Österreich–Deutschland nutzten, um eine Art ‚Brücke‘ zu den kalabrischen Ansiedlungen zu schlagen, die sich in Süddeutschland, insbesondere in München, niederließen“, heißt es in einem Bericht der DIA von 2023. Anfang der 90er Jahre konnten Strafverfolgungsmaßnahmen die Mafia-Organisation zurückdrängen, aber nicht endgültig besiegen.

Nun ist die vierte Wahl in Lona-Lases im Sande verlaufen, „eine Niederlage für die Demokratie“, so Francini. Am Wahlsonntag, dem 21. Mai, wurde die nötige Teilnahmequote nicht erreicht. Denn auch wenn nur eine Liste vorhanden ist, müssen mehr als 50 Prozent der Wahlberechtigten an die Urne treten, damit das Ergebnis gültig ist. In Lona-Lases gab nicht einmal ein Drittel der etwa 600 Berechtigten eine Stimme ab.

Sicherlich war es ein Nachteil für Borgomeo, dass ihn vor den Wahlen niemand im Ort kannte und seine Kandidatur erst spät bekannt wurde. Zudem stand ihm das CLP skeptisch gegenüber. Gemeindesekretär Galvagni sagt, dass ein Gemeinderat ohne Opposition einem versteckten Interimsrat nahekäme. Für Borgomeo und Interimsbürgermeister Francini hingegen ist der Unterschied deutlich, ein gewählter Bürgermeister könne beispielsweise bereits ausgeschriebene Projekte freigeben, die unter Interimsregierungen stillstehen müssten.

Borgomeo analysiert nach der Wahl: „Die Wahlbeteiligung war niedrig, weil die Bürger in nicht geringem Maße entmutigt sind.“ Francini bleibt also vorerst an der Spitze von Lona-Lases. Was die Gemeinde dringend bräuchte, seien Gelegenheiten, die Vergangenheit zu verarbeiten und zu akzeptieren, so Antimafiaaktivistin Simoncelli. „Was passiert ist, hat das Sozialgefüge verändert.“ Dafür brauche Lona-Lases „eine neue Art des Zusammenseins“, wer über die Mafia-Unterwanderung spreche, dürfe nicht mehr als Schwarz­ma­le­r:in oder Spiel­ver­der­be­r:in wahrgenommen werden.

Gemeindesekretär Galvagni fordert, den Verwaltungsapparat endlich wieder in Gang zu bringen und zudem die Vergangenheit gewissenhaft zu untersuchen. „Nichts wird sich ändern, solange nicht ernsthaft untersucht wird, was passiert ist.“ Für ihn ist die Geschichte von Lona-Lases noch lange nicht abgeschlossen: „Die Diskussion über das organisierte Verbrechen und den Einfluss auf die öffentliche Verwaltung endet nicht mit dem Prozess oder den Kommunalwahlen. Ich denke, sie fängt gerade erst an.“

Ein Teil der Aufarbeitung der Vergangenheit findet in den Gerichtssälen statt, einen anderen Teil müssen die Bür­ge­r:in­nen selbst bewältigen: Wie ist die Gemeinde in diese Situation geraten? Wer hat wie dazu beigetragen? Zwei Drittel der Wahlberechtigten sind nicht zur Wahl gegangen, aber eine Botschaft haben sie so gesendet: eine Botschaft der Mutlosigkeit und einer dahinsiechenden Demokratie.

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