Silvesterkrawalle in Berlin: Männliches Geltungsbedürfnis

Das Bild von frei drehenden muslimischen Jugendlichen festigte sich nach den Silvesterkrawallen. In der Volksbühne wurde über die Folgen diskutiert.

Feuerwerkskörper aus der Silvesternacht 2023 Foto: Sophie Kirchner

„Frohes Neues“ begrüßt Daniel-Dylan Böhmer, Journalist und Moderator des Abends, mit einem Augenzwinkern das Publikum. Bei der Veranstaltung mit dem Titel „Angry Young Men“ am Montagabend in der Volksbühne in Berlin sollen die Ereignisse der Berliner Silvesternacht diskutiert werden, ohne dabei den rassistischen Diskurs vom „muslimischen Ghetto Neukölln“ zu reproduzieren. Die Debatte, die den Wiederholungswahlkampf für den Berliner Senat mitbestimmte, ist inzwischen abgeklungen. „Doch das nächste Silvester kommt bestimmt“, da ist sich Moderator Böhmer sicher.

Dabei seien junge Männer, die kollektiv und mehr oder weniger spontan randalieren, sich prügeln oder mit der Staatsmacht anlegten, keineswegs ein neues Phänomen, argumentiert der Pädagoge Ahmed Toprak, der selbst Anti-Gewalt-Trainings mit Jugendlichen durchgeführt hat. Das habe es schon in den 50er-Jahren gegeben, bevor Millionen von Menschen aus der Türkei und anderen Ländern als billige Arbeitskräfte in Deutschland angeworben wurden, sagt er.

Jugendgewalt nimmt ab

Dass die Ursachen für solche Ereignisse in rassistischen Zuschreibungen gesucht werden, sobald Migranten beteiligt seien, sei auch nicht neu. Toprak verweist auf eine Massenschlägerei 1998 in München, die die CSU nutzte, um im Wahlkampf Stimmung gegen Muslime zu machen. Jugendgewalt nehme laut sämtlichen Studien über die Jahrzehnte eher ab, dieser Trend sei aber nicht so wahrnehmbar, weil auch die gesellschaftliche Akzeptanz für Gewalt abnehme.

Dass diese Gewalt fast ausschließlich von Männern kommt, da sind sich alle Dis­kus­si­ons­teil­neh­me­r*in­nen einig. Die Journalistin und Autorin Sineb El Masrar sucht die Ursachen für Dominanzverhalten und patriarchale Denkweisen in der Erziehung im Elternhaus junger Männer. Zwar sei auch die deutsche Mehrheitsgesellschaft patriarchal geprägt, wie El Masrar eingesteht. Wenn an diesem Abend in der Volksbühne über den Zusammenhang von Gewalt und Männlichkeit geredet wird, wird diese dennoch ausschließlich als migrantische Männlichkeit verhandelt.

Nahed Samour, Rechts- und Islamwissenschaftlerin und dritte Teilnehmerin des Podiums, verweist auf einen weiteren Punkt: den bei der Polizei vorherrschenden Rassismus und die andauernde Erfahrung junger muslimischer Menschen mit Racial Profiling und Polizeigewalt. Auch überfallartige Razzien in Shishabars beispielsweise seien gerade in Neukölln keine Seltenheiten. Samour beobachtet eine Eskalation in der Rhetorik der Polizei, wenn es um die Beschreibung sozialer Probleme geht.

Angriffe auf Polizei nicht nur aus Geltungsdrang

„Polizei ersetzt keine Pädagogik“: Auf diesen Satz von Ahmed Toprak können sich alle Teilnehmenden einigen. Das Problem an Prävention sei, dass ihre Erfolge eben nicht unmittelbar messbar sind: das sei das sogenannte Präventionsparadoxon. Jugendgewalt, wie sie in der Neuköllner Silvesternacht auftrat, sei ein Problem der Abgehängten. Es sei eine Möglichkeit für Menschen, denen es an Teilhabechance fehle, sich Geltung zu verschaffen, so Toprak.

Dass Angriffe auf die Polizei nicht bloß aus Geltungsdrang, sondern auch als Reaktion auf alltägliche Gewalterfahrungen durch die Polizei geschehen, wird zwar immer wieder angedeutet, weitere Schlussfolgerungen werden aus dieser Erkenntnis in der Diskussion jedoch nicht gezogen. Was männliches Dominanzverhalten und das Bedürfnis, sich Geltung zu verschaffen, mit einer Gesellschaftsordnung zu tun hat, die Konkurrenz zum Grundprinzip hat, ist eine weitere offene Frage dieses Abends.

Was denn jetzt mit der Polizei sei und ob die Politik irgendetwas ändern will, möchte ein Zuhörer wissen, als die Diskussion für das Publikum geöffnet wird. Zumindest weiß ­Moderator Böhmer, dass Bürgermeister Kai Weg­ner schon angekündigt hat, die Polizei in der nächsten Sil­vester­nacht an „vorderster Front“ zu begleiten. Na dann: Guten Rutsch!

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