Recht auf freiverantwortliches Sterben: Respekt bis zum Tod

Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft setzt voraus, den Menschen auch und gerade die Vorstellung  vom eigenen Lebensende selbst zuzugestehen.

Ein Mann steht mit einem Regenschirm auf einem Bootsanleger

Suizidhilfe muss nachvollziehbar sein, gerade dann, wenn der Sterbeprozess nicht absehbar ist Foto: Victoria Bonn-Meuser/dpa

Unter den nicht wenigen Menschen – in der Regel schwer und aussichtslos körperlich erkrankt –, die sich an mich wenden, um ihr Leben selbstbestimmt zu beenden, finden sich – in steigender Zahl – auch hochaltrige Menschen mit dem Anliegen eines proaktiven, präventiven Suizids.

Was verbirgt sich hinter einem solchen Verlangen? Ohne Zweifel kann der Lebensweg im hohen Alter zunehmend zum Leidensweg werden, der durch vielfältige Krankheiten, Beschwerden und Einbußen gekennzeichnet ist: chronischer Schmerz, Atemnot, Bewegungseinschränkungen, Lähmungen, Inkontinenz, Abnahme des Hör- und Sehvermögens, Gleichgewichtsstörungen, Stürze und Sturzangst.

Dazu können nachlassende geistige Fähigkeiten bis hin zur Demenz sowie brüchiger werdende und sich auflösende soziale Beziehungen kommen. Das Vermögen, ein selbstständiges Leben zu führen schwindet, vice versa nehmen Hilfs- und Pflegebedürftigkeit zu und sind letztendlich unausweichlich. Für manch hochaltrigen Menschen stellt sich daher die Frage: Will ich das alles erleben und ertragen? Will ich den mir drohenden, unabänderlichen Autonomieverlust hinnehmen?

Die übergroße Mehrheit kranker, alter, gebrechlicher und pflegebedürftiger Menschen bejaht bewusst oder unbewusst diese Frage und überantwortet sich privater oder institutioneller Pflege, palliativmedizinischer und hospizlicher Behandlung, Versorgung und Zuwendung. Dieses etablierte System der Versorgung leistet enorm viel und ist unverzichtbar. Es quantitativ und qualitativ auszuweiten ist dringend geboten, gerade angesichts des demografischen Wandels, weil es – trotz aller bekannten Mängel – vielen Menschen ein ihnen gemäßes und friedliches Lebensende sicherstellen kann.

„Zum Schatten meiner selbst werden“

Und doch muss niemand diese Versorgungsangebote wahrnehmen. Eine wachsende Zahl alter Menschen erwägt aus unterschiedlichen Gründen – gänzlich unabhängig von der Güte und Qualität ihrer künftigen Versorgung –, über die Umstände, die Zeit und den Ort ihres Todes selbst verfügen zu wollen.

Letzteres wünscht eine meiner Patientinnen. Frau S. ist 84 Jahre alt, promovierte Philologin, verwitwet und kinderlos. Sie ist gebrechlich, leidet aber nicht an einer schweren Erkrankung. Allerdings sind Frühsymptome einer dementiellen Entwicklung ärztlicherseits attestiert, die ihr Denk- und Urteilsvermögen (noch) nicht beeinträchtigen.

Umfassend legt sie mir dar, dass sie immer ein selbstbestimmtes und glückliches Leben geführt habe, sie jedoch ihrer eigenen Hinfälligkeit, insbesondere dem Vollbild einer Demenz, an der auch ihre Mutter und ihr Bruder litten, unbedingt zuvorkommen wolle: „Zum Schatten meiner selbst zu werden entspricht nicht den Vorstellungen von dem Wert und der Würde meines Lebens. Noch bin ich in der Lage, selbstbestimmt und freiverantwortlich über mein Leben zu entscheiden – doch wie lange noch?“

Als Arzt muss man sich um Empathie bemühen

Keineswegs sollten sich Ärzte als Dienstleister empfinden, die Suizidwilligen nur Medikamente zur Selbsttötung bereitstellen. Als Arzt muss man sich um Empathie bemühen und dem ganz persönlichen ärztlichen Gewissen und ethischen Koordinatensystem verpflichtet sein. Entscheidend ist, gemeinsam mit den Patienten einen ergebnisoffenen Dialog zu suchen.

Es geht um eine unwiderrufliche Entscheidung, die Zeit braucht, aufseiten der Patienten wie des Arztes

Suizidhilfe muss plausibel und nachvollziehbar sein, gerade dann, wenn der Sterbeprozess, wie im Fall von Frau S., nicht absehbar ist. Es geht um eine unwiderrufliche Entscheidung, die Zeit braucht und reifen muss, aufseiten der Patienten wie des Arztes. Zwischen Frau S. und mir ist dieser Prozess noch nicht abgeschlossen.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. 2. 2020, das Suizid und Suizidhilfe zu Grundrechten erklärte, ebnet auch Frau S. den Weg, mit ärztlicher Hilfe ihr Leben autonom zu beenden. Die Entscheidung, so das Verfassungsgericht, „muss freiverantwortlich, von festem Willen getragen und ohne äußeren Druck zustande gekommen sein und sich zudem als zeitkonstant erweisen“.

Es darf keine Hierarchie geben

Autonomie bezeichnet das Vermögen, auf Grundlage eigener Werte und Überzeugungen authentisch, also nach kritischer Selbstreflexion, zu entscheiden. Dies im Falle eines Suizidverlangens zu prüfen obliegt dem zuständigen Arzt, im Zweifel einem Arzt für Psychiatrie. Es geht dabei allein um die mentale Verfasstheit des Suizidanten, seine Einwilligungsfähigkeit also, nicht um die Inhalte seiner Entscheidung. Die muss er nicht rechtfertigen.

Selbstbestimmungsfähige Bür­ge­r:in­nen haben nun die Wahl: den natürlichen Tod, fürsorglich begleitet, abzuwarten oder aber seinem Eintreten mittels Selbstverfügung zuvorzukommen. Eine Hierarchie darf es nach dem Verfassungsgerichtsurteil nicht geben; beide Wege sind gleichermaßen respektabel und staatlicherseits als Grundrechte effektiv zu ermöglichen.

Selbstverfügung über das eigene Leben mag für manche einen Geruch von Selbstherrlichkeit haben. Indes ist Selbstverfügung ein hohes verfassungsrechtlich geschütztes Gut, das es aus meiner Sicht nicht nur zu ertragen, sondern, wenn Leiden übermächtig zu werden droht und der individuelle Lebenssinn verloren gegangen ist, auch mitzutragen gilt: Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft setzt Respekt vor dem Mitmenschen voraus, auch und gerade in der Vorstellung seines eigenen Lebensendes. Mein Plädoyer: Diesen Respekt sollte unsere Gesellschaft ihren Mitgliedern nicht versagen.

Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sollten Sie von Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Die Telefonseelsorge bietet rund um die Uhr Ansprechpartner, auch anonym. Rufnummern: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222

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