Politische Krise in Frankreich: Verfassung reif für die Rente

Emmanuel Macron ist zunehmend entrückt. Es ist ein Symptom dafür, dass die Machtfülle des französischen Präsidenten völlig aus der Zeit gefallen ist.

Eine Person mit der Frankreich-Fahne hockt auf einer kleinen Insel (Illustration)

Frankreichs Verfassung braucht dringend eine Ablösung Foto: Katja Gendikova

Der französische Staatspräsident ist ein Getriebener, einer, der immer glänzen will, auch wenn es nichts zum Glänzen gibt. Aber vielleicht hilft ja diesmal beten. Gut möglich, dass Emmanuel Macron, der sich mit zwölf Jahren römisch-katholisch taufen ließ, das tat, als er Mitte April die Baustelle der 2019 fast abgebrannten Pariser Kathedrale Notre-Dame besuchte.

Am selben Tag noch unterzeichnete er das höchst umstrittene neue Rentengesetz: 

Schrittweise steigt das gesetzliche Rentenalter in den meisten Fällen damit von 62 auf 64 Jahre. Die Beitragsjahre für eine volle Rente steigen auf 43. Das System sei nur so „überlebensfähig“, sagt ­Macron. Millionen in Frankreich haben, teils auch gewalttätig von ­Demonstranten- wie von ­Polizeiseite aus, an bis jetzt 13 landesweiten Streiktagen seit Jahresbeginn gegen die Reform protestiert. Auch viele nicht gewerkschaftlich organisierte Menschen sind dabei.

Der rechtsextreme Rassemblement National (RN) wettert im Parlament gegen die Rentenreform, will es sich aber nicht mit seinen vielen Wäh­le­r:in­nen in der Polizei verderben, die die Demos begleiten müssen. Außerdem ist er dort verständlicherweise nicht erwünscht.
 Anfang Juni soll ein weiterer großer Demotag folgen – zwei Tage bevor eine kleine Fraktion in der Nationalversammlung versuchen wird, das Gesetz doch noch per Abstimmung zu kippen. Eine Aussicht, die der Regierung unter Premierministerin Élisabeth Borne sowie Macron natürlich nicht schmeckt – auch wenn als sicher gilt, dass der konservativere Senat erneut gegen eine Reformaussetzung ist.


Im März überstand Bornes Regierung zwei Misstrauensanträge. Zuvor hatte die 62-Jährige einen Ver­fah­rens­kniff angewendet – sie umging mit Artikel 49.3 eine Parlamentsabstimmung zur Reform und beschloss so das höhere Rentenalter. Was die meisten ihrer Landsleute seitdem noch stärker gegen sie, aber vor allem gegen Macron aufbringt.

Denn klar war, dass Macron qua seiner Machtfülle die Premierministerin dazu gedrängt hatte, autoritär und kompromisslos vorzugehen. Danach segnete auch der Verfassungsrat die Reform ab und verwarf schließlich Anträge auf Volksabstimmungen in der Sache. Nur bedingt vergleichbar mit dem Bundesverfassungsgericht, ist der ­Conseil ­constitutionnel stark politisch geprägt. Staats-, Nationalversammlungs- und Senatspräsidenten ernennen die Mitglieder.

Gestaltungsspielräume erlaubt er nicht


Macron lässt Première Borne, seit einem Jahr im Amt, Mitglied von Macrons eigener Partei Renaissance und eine gestandene Verwaltungsexpertin, regelmäßig im Regen stehen – durch seine Art des alles an sich Reißenden. Gestaltungsspielräume erlaubt er in diesen verfahrenen Zeiten nicht. Funfact am Rande: Vor Weihnachten verkündete der Präsident höchstselbst, dass Kondome für junge Leute bis 25 Jahre ab sofort gratis seien. Tja, wozu hat man ein Gesundheitsministerium?

Der Präsident, der 2017 mit dem Motto antrat, einer für alle zu sein, einer, der auf keinen Fall vertikal durchregiert (was man ihm damals schon nicht abnahm), macht momentan als rastloser Pseudoheilsbringer Stippvisiten quer durch Frankreich. Fast schon wäre der im Grunde Dia­log­un­fä­hig­e ein Grund zum Lachen – wäre die Lage in und außerhalb Frankreichs eben politisch nicht so kompliziert. Da helfen auch keine simplifizierenden „100 Tage“, die er nach seiner durchgepeitschten Rentenreform ausrief zur „Wiederbelebung“ Frankreichs bis zum 14. Juli. Und da wird es auch keine schwammige „Reformagenda“ richten.



Gelang es Macron nach den Gelbwestenprotesten durch seine Erfindung einer, letztlich rein symbolisch gebliebenen, nationalen „großen Debatte“, 2019 kurzfristig wieder Oberwasser zu bekommen und zumindest seine Fanbasis zu konsolidieren, so nimmt ihm echtes Interesse an seinen Landsleuten diesmal niemand mehr ab. Zunehmend kommt auch Kritik aus der eigenen Partei. So meinte kürzlich der Abgeordnete Ludovic ­Mendes in Le Monde, dass man sich intern eine kritische Debatte verbiete, „obwohl wir doch keine Ideen mehr haben und die Mitstreiter verlieren“.



Sarkozy nochmal zur Gefängnisstrafe verurteilt

Gut möglich, dass sich Renaissance darob vor den Wahlen 2027 auflöst – Macron darf qua Verfassung kein drittes Mal antreten. Präsidentschafts­ambitionen haben wohl unter anderen der Ex-Premier und heutige Bürgermeister von Le Havre Édouard Philippe und der seit 2017 amtierende Finanzminister Bruno Le Maire. Wer von den konservativen und tief zerstrittenen Republikanern einst ins Rennen ziehen wird? Nicolas Sarkozy sicher nicht; er wurde gerade wieder zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, gegen die er noch einmal Berufung einlegt.

Die früher mächtigen Sozialisten dümpeln richtungslos im linken interfrak­tio­nellen Sammelbecken NUPES vor sich hin, ähnlich wie EELV, die französischen Grünen. Und die Götterdämmerung von Jean-Luc Mélenchon, der als linker, volkstribunartiger Kandidat von La France insoumise nur knapp die Stichwahl 2022 verpasste, die hat parteiintern zum Glück definitiv begonnen.

Politische und soziale Krise

Frankreich, dessen Wirtschaft trotz allem im Aufwind ist, ist spürbar in einer politischen, einer sozialen Krise. Und diesem Präsidenten, der anders als hierzulande mit kolossaler Wirkungs- und Gestaltungsmacht ausgestattet ist und eigentlich die Nation befrieden müsste, fällt nichts Besseres ein, als jüngst in einem Bür­ge­r:in­nen­in­ter­view erneut seinen polemischen Satz: „Arbeit findet man, man muss nur über die Straße gehen“, zu bekräftigen.

Die Krise ist vielschichtig: Sie ist unter anderem eng verbunden mit Macrons Hybris. Die goutiert die Gesellschaft, konkret das wachsende Prekariat und die abstiegsgefährdete Mittelschicht, auf Dauer nicht – Macron dringt außerhalb seiner bröckelnden Stammwählerschaft (knapp 25 Prozent der Französ:innen, davon viele über 65 Jahre) nicht mehr durch. Er scheint vergessen zu haben, dass ihm seine Wiederwahl in erster Linie nicht gelang, weil man ihn so fähig fand, sondern nur, weil zumindest 2022 noch gerade so der Abwehrreflex gegen einen Sieg Marine Le Pens vom rechts­ex­tre­men RN funktionierte.

So rigoros Teile Frankreichs die präsidentielle Machtfülle infrage stellen, so wenig Kompromissbereitschaft zeigt sich bislang

Le Pen wird wohl zum vierten Mal 2027 kandidieren. Momentan liegt ihre Partei, die derzeit 88 von 577 Parlamentssitzen innehat, beunruhigend stark im Aufwind. Sie präsentiert sich, auch durch das smarte Auftreten ihres neuen 27-jährigen Vorsitzenden Jordan Bardella, geschickt im Schatten der aktuellen Proteste und gibt sich als Hüterin des vermeintlich guten alten Frankreichs. Ihr sozialer Anstrich kaschiert die rechtsextremen Positionen etwa zu Migration oder Kriminalität.



Zusammenhang zur kolonialen Vergangenheit

Frankreichs Krise ist aber auch eine des politischen, stark zentralistischen Systems. Viele Menschen stellen sich dort die drängende Frage, ob die Verfasstheit der sogenannten Fünften Republik noch zeitgemäß ist und modernen Anforderungen an eine Demokratie genügt.

Diese Fran­zö­s:in­nen haben recht. Der Präsident hat zu viel Macht, das Parlament und die Regierung zu wenig. Die Fünfte Republik, die mittlerweile 65 Jahre auf dem Buckel hat, sollte perspektivisch abgelöst werden – von einer Sechsten Republik, erdacht von einer paritätisch besetzten Verfassungsversammlung, die den Kompromiss, die Koalitionenbildung und ein Verhältniswahlrecht fördert. Diese Debatte wird zumindest im linken Meinungsspektrum geführt.

Doch Achtung, Politik und soziale Ak­teu­r:in­nen fremdeln in Frankreich oft heftig mit dem Wesen von Kompromissen – ein Fakt, der im hinkenden Vergleich des deutschen Regierungs- und Sozialstaatssystems mit dem französischen beachtet gehört. Soll polemisch heißen: So rigoros Teile Frankreichs etwa die präsidentielle Machtfülle infrage stellen, so wenig Kompromissbereitschaft zeigt sich bislang letztlich in der DNA Frankreichs. Hierarchisches Denken ist schlicht noch stark verankert.



Die Geschichte und das Wesen der Fünften Republik hängen eng mit der unrühmlichen kolo­nia­len Vergangenheit Frankreichs zusammen. 1958 kam es nach dem Fiasko der Vierten Republik im damaligen Französisch-Indochina und während des brutalen Algerienkriegs zu einer schweren Staatskrise. Schließlich erhielt Charles de Gaulle als damaliger Ministerpräsident das Recht, eine neue Verfassung zu entwerfen, die im September 1958 in einer Volksabstimmung durchging.

Permanenter Staatsstreich

Die Fünfte Republik war geboren und mit ihr die enorme, ja autokratische Machtfülle des Staatspräsidenten. De Gaulle besaß sie bis 1969; er konnte wie alle anderen Präsidenten nach ihm etwa das Parlament auflösen, ernannte den Premierminister und führte den Ministerrat.



1962 ließ er noch die direkte Präsidentschaftswahl in die Konstitution hineinschreiben. Diese Verfassung mit ihren geschwächten Kompetenzen für Premierminister und Parlament kritisierte der spätere sozialistische Staatspräsident François Mitterrand in jungen Jahren als „permanenten Staatsstreich“. Was ihn als Präsidenten selbstverständlich nicht davon abhielt, so régalien, so hoheitlich, ja königlich wie heute auch Macron aufzutreten.

Nur als Gedankenspiel: Wie wäre es, Macron und Scholz tauschten für eine Woche ihre Ämter, schnupperten in den anderen Alltag hinein? Wetten, dass Macron nach nur einer Stunde drögen Koalitionsausschusses schreiend vor Bedeutungsverlust aus dem, ganz im Gegensatz zum Élysée-Palast, schmucklosen Berliner Kanzleramt laufen würde?


Jetzt aber final Tacheles. Emmanuel Macron steht im Inland zunehmend isoliert da, auch wenn seine Rentenreform aller Voraussicht nach durchkommen wird. Falls er nicht rasch sein Urmotto „En marche“ umsetzt und sich nicht auf die französische Bevölkerung zubewegt, auf das Kabinett und auf andere demokratische Parteien, wird er, und das ist anzunehmen, zur lame duck mutieren. Zur lahmen, angreifbaren Ente, die zwar qua Verfassung mächtig, aber mächtig angezählt auf ihr Dienstende 2027 zuwatschelt.

Seine von ihm ausgerufenen „100 Tage“ sind historisch übrigens negativ besetzt: Napoleon scheiterte kläglich nach seiner Rückkehr von der Verbannungsinsel Elba bis zum endgültigen Machtverlust nach der Schlacht von Waterloo 1815. Ein Schelm, wer dabei Böses denkt. Honni soit qui mal y pense.

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Seit 2013 bei der taz-Wahrheit, zeitweise auch Themenchefin in der Regie und Redaktionsrätin. Außerdem Autorin mit Schwerpunkt Frankreich-Themen

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