Roman „Avalon“ von Nell Zink: Wer heilt welche Wunden?

Die Schriftstellerin Nell Zink parodiert in „Avalon“ ritterliche Romantik – und fragt, wie Liebe erzählbar bleibt, ohne die Kulturindustrie zu bedienen.

Die Stadt Avalon auf Catalina Island in Kalifornien in blau-rot-lila Farben des Sonnenuntergangs

Findet sich hier das richtige Leben im falschen? Stadt Avalon auf Catalina Island in Kalifornien Foto: Kyoung Yun/getty

Der Einstieg in diesen Roman ist betont rätselhaft. Da ist von „Eisbergwolken“ und „Dia­mant­felsen“ die Rede. Ein „schmieriger Streifen Mondlicht“ führt eine offenbar verletzte Erzählerin zur Insel Avalon. Befinden wir uns in einer neoromantischen Sagenwelt? Schreibt Nell Zink nun Genreliteratur? Gar einen Ritterroman? Offenbar handelt es sich um eine kurze Traum­sequenz, was die Szene zunächst nicht verständlicher macht.

Es tritt ein Mann mit dem durchschnittlichsten Namen der westlichen Gegenwart auf, nämlich Peter, begleitet von einem Hund, der ausgerechnet auf Rabelais hört. Das kann kein Zufall sein, immerhin hat der französische Schriftsteller im 16. Jahrhundert mit „Gargantua und Pantagruel“ eine berühmte Parodie auf den Ritterroman geschrieben.

Peter jedenfalls verhält sich alles andere als ritterlich. Gerade hat ihn seine Verlobte verlassen, die nicht länger betrogen werden möchte, was zwar laut Peter ein „Scheiß-Desaster“ ist, aber dann doch nicht so schlimm. Er liebt ohnehin eine andere, und zwar die Erzählerin, die, kaum hat sie vom unrühmlichen Ende der elterlich arrangierten Beziehung gehört, die „Sterne in unbeschreiblichen Glück“ zerfließen lässt. Trotzdem fragt sie sich: „War das irgendwie moralisch zu rechtfertigen?“

Damit sind auf anderthalb Seiten die wesentlichen Motive dieses sensationell grotesken und zugleich äußerst ernsthaften Prosawerks angerissen. Im nächsten Absatz wird kurz erklärt, dass es sich beim titelgebenden Avalon nicht nur um die mythische Apfelinsel handelt, auf der König Artus gebracht wurde, um seine Wunden zu heilen.

Nell Zink: „Avalon“. Aus dem Englischen von Thomas Überhoff. Rowohlt Verlag, Hamburg 2023, 270 ­Seiten, 24 Euro

Als Projektionsfläche für Sehnsüchte dient auch ein gleichnamiges „Touristenfallen-Kaff“ in Kalifornien, auf Santa Catalina Island südlich von L. A. gelegen. Dorthin machten die Erzählerin und ihre Mutter am Ostersonntag 2005 einen kleinen und kostspieligen Ausflug.

Die Tochter kann sich genau erinnern, weil sie kurze Zeit später von der verantwortungslosen Erzeugerin verlassen wurde. Nachdem der Vater schon vor Jahren verschwand, möchte sich auch die verbliebene Erziehungsberechtigte nicht mehr ums Kind kümmern, sondern lieber in einem tibetisch-buddhistischen Kloster leben.

Auch diese Passage endet mit einer für Zink nicht untypischen Pointe. Die adult-infantile Sinnsucherin hinterließ der Tochter nicht viel, nur ein paar Fantasy-Bücher mit Titeln wie „Flammender Kristall“ oder „Taran und das Zauberschwert“.

Aus diesen Werken stammt wohl auch der Vorname der Erzählerin, der erst spät im Text auftaucht: Bran heißt sie, angeblich eine Abkürzung für Brandy. Dabei bezieht sich der keltische Name eher auf Branwen, einem walisischen Aschenputtel, das vom königlichen Gatten zu niederen Arbeiten in der Küche gezwungen wurde.

Bruder Bran, ein Riese, rettete die Schwester schließlich aus der häuslichen Tyrannei. Diese Bezüge in die Sagenwelt sind in „Avalon“ nicht ausformuliert, tauchen eher stichwortartig auf, bilden aber den kulturellen Resonanzraum einer Geschichte, die auch als klassische Coming-of-Age-Story zu lesen ist.

Bran wächst beim Ex ihrer Mutter auf, der zusammen mit dubiosen Verwandten und kriminellen Freunden eine Baumschule betreibt. Das Kind wird – ähnlich wie in der Legende – zur Arbeit gezwungen und erhält keinen Lohn für den stundenlangen Ligusterschnitt. Ein Wunder, dass das Mädchen überhaupt die Highschool besuchen darf. Die Schule ist der Schlüssel zur Befreiung, die bei Nell Zink selbstverständlich nicht der große Bruder, sondern in letzter Konsequenz die Frau selbst übernimmt.

Bran bleibt zwar Außenseiterin, weil sie oft ­dreckig in den Unterricht kommt und sich im wahrsten Sinne des Wortes wie eine Lumpenproletarierin kleidet, aber sie freundet sich schnell mit Leuten aus reicheren Eltern­häusern an, die ebenfalls auf Identitätssuche sind. Es findet sich eine Clique, die für kurze Zeit eine fast klassenlose Utopie realisiert, sich aber nach dem Ende der Schulzeit umgehend auflöst.

Bran muss zurück in die Baumschule; ihre Freunde beginnen mit dem Studium oder dürfen sich wie Jay künstlerisch ausleben. Der Junge nimmt seit Jahren Flamenco-Unterricht, was Bran allerdings nicht überzeugt: „Jay war ein extrem unbegabter Tänzer. Es ist schwer, als Freundin zu beschreiben, wie er beim Tanzen aussah. Stellen sie sich einen Pädophilen vor, der nebenbei Hundewelpen umbringt, aber gewillt ist, gegen Sex mit Jay ein paar zu verschonen.“

So witzig wie rührend, dass ausgerechnet Adorno geschenkt wird

Der Humor ist wie immer in Zinks Romanen so überdreht ­rabiat, dass ein sensibles Publikum pikiert sein könnte. Tatsächlich gehört der Gedanke, diese Prosa könne durch ein Sensitivity Reading markt­gerechter gemacht werden, zum philosophisch-­politischen Kern des vielschichtigen Textes.

Bran lernt über ihre Studienfreunde den neunmalklugen Peter kennen, der sie nicht nur mit allerlei Theorien zum Faschismus in der zeitgenössischen Kultur irritiert, sondern auch mit gedrechselten Merlin-Monologen zu flirten versucht.

Bran durchschaut den Kerl und verliebt sich gerade deshalb. Nicht einmal sein Man­splaining kann sie davon abhalten, mit ihm ins Bett zu gehen: „Ich lass mich lieber von dir verarschen als von irgendeinem anderen Mann im Universum“, sagt sie und beschreibt die folgende Szene mit großer Lässigkeit: „Dann küssten wir uns richtig. Also ernsthaft, hardcore. Sogar seine Hände gerieten halbwegs in meine Hose. Wir wälzten uns auf dem Bett herum.“ Geht so zeitgemäße Romantik?

Eine Form für die wüste Welt

Nell Zink belässt es nicht dabei, eine unritterliche Rittergeschichte zu erzählen und zu fragen: Wer heilt hier welche Wunden? Bran entwickelt sich schon bald von der amüsierten Empfängerin intellektueller Botschaften zu einer Kreativen, die anders als Peter sich nicht in Zitaten ergeht, sondern sich ans Werk macht, eine künstlerische Form für die wüste Welt zu finden: Erst hilft sie noch ihren Freunden, ins Filmgeschäft einzusteigen, dann arbeitet sie an eigenen Drehbüchern.

Es ist so rührend wie witzig, dass Peter ihr in dieser Lebensphase ausgerechnet Adornos „Minima Moralia“ schenkt. Bran hat sich tatsächlich vorgenommen, ein richtiges Leben im falschen zu erzählen. Dabei merkt sie, dass aufklärerisch gemeinte Experimental-Dystopien oft am Publikum vorbeigehen und dass die erfolgreichen Produktionen, zumeist Fantasy- und Science-Fiction-Formate, menschenverachtende Auslöschungsvisionen mit unsäglichem Herzschmerz kombinieren und diese Mischung in banalster Sprache ausbreiten.

Was also tun? Lässt sich Romantik überhaupt erzählen, ohne die schrecklichen Klischees der Kulturindustrie zu bedienen? Peter gibt wie immer Ratschläge, auf die alle gewartet haben: „Lasst einen Film mit faschistoider Bildästhetik auf Avalon spielen. Falls das nicht schon mal gemacht worden ist.“

Nell Zink arbeitet mit schnellen Schnitten, springt von einer Erzählebene zur nächsten. Mal berichtet Bran von bösen Motorrad-Rockern, die sie auf Geheiß des Stiefvaters verfolgen, dann befinden wir uns schon wieder in einem bizarren Drehbuch, in dem ein „Ritterfräulein einen verwaisten Fischotter flaschenfüttern wollte“.

Während Bran also ihren Avalon-Film vorantreibt, steigert sich ihre Sehnsucht, den geliebten Fremdgänger endlich wiederzusehen, ins schwer Erträgliche. Als sie sich das erste Mal in einem Hotel getroffen hatten, war schon die Fahrt im Aufzug ein Erlebnis: „Irgendwie fühlte ich mich hochsensibilisiert, als hätte man mich über und über mit Tigerbalsam eingerieben.“

Schließlich fährt Bran mit ­ihrem alten Mazda quer durch die USA, um den Angebeteten auf einer Party in einem seltsam luxuriösen Ambiente zu treffen. Der Gastgeber hat sich wie ihre Mutter dem Dalai Lama verschrieben. Bran ist nur froh, dass Peter sich auch über den „Mussolini des Himalaya“ ­lustig macht: „Hast du gehört, dass er gedroht hat, sich an den Chinesen zu rächen, indem er sich nicht reinkarnieren lässt?“

Das findet der Hausherr nicht ­komisch, verlangt „Respekt“ für seinen Weg ins ganz ­persönliche Avalon. Womit wir wieder bei den Debatten um das richtige Leben im falschen wären, um den Kitsch, der sich mittlerweile in fast jeder ­Diskussion um wert­schätzende Sprache entfaltet.

Nell Zink hat in ihren Romanen immer wieder die Verlogenheiten unterschiedlicher Milieus thematisiert: „Der Mauerläufer“ zertrümmert klassische Konzepte bürgerlicher Zweisamkeit, „Nikotin“ befasst sich mit dem egoistischen Idealismus der amerikanischen Alternativszene, in „Virginia“ werden oberflächliche Zuschreibungen bezüglich Race und Gender zur gesellschaftlichen Farce, und in „Das Hohe Lied“ geht es um das Versagen der Demokraten gegen die trumpistischen Republikaner.

Was die meisten Figuren in diesen Texten eint, ist ein ständiges Unterwegssein, das Überschreiten von geografischen, geistigen, ethnischen, kulturellen und ökonomischen Grenzen. Kein Wunder, dass Zinks Heldinnen oft in ein Auto steigen, um möglichst schnell wegzukommen.

Mit „Avalon“ geht die auf Englisch schreibende und in Brandenburg lebende Autorin ein ­besonderes Wagnis ein, weil die romantische Liebe ein vermintes Erzählgelände ist. Doch durch die ausgetüftelte Romankonstruktion, die Widersprüche hervorhebt, statt sie einzuebnen, durch Zinks untrügliches Gespür für das Groteske im alltäglichen Grauen und nicht zuletzt durch ihre Kunst, komplizierte Kultur­verwicklungen und noch kompliziertere Beziehungswirrnisse auf wild-präzise Weise zu erzählen, hat sie abermals ein so originelles wie originäres Werk verfasst.

Gegen Nell Zinks Romane wirkt ein Großteil der zeitgenössischen US-Literatur erstaunlich bieder. Ohnehin sollten die lakonischen Sexszenen, die Zink schreibt, zur Pflichtlektüre für alle werden, die meinen, über die Liebe schreiben zu müssen. So wie „Avalon“ fortan als ästhetisches Richtmaß gelten darf, wenn es wieder mal um ­mythische Paradiese, Ritter­legenden und die Hoffnung geht, den Apfel der Verführung als süßliche Schonkost servieren zu können.

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