Gerüchte über Lukaschenkos Gesundheit: Die wandelnde Mumie

Der belarussische Präsident war tagelang verschwunden. Jetzt ist er zurück, allerdings sichtlich angeschlagen. Die Zukunft des Landes ist unsicher.

Der belarussische Staatspräsident Alexander Lukaschenko besucht einen Bunker der Luftwaffe in Minsk

Staatspräsident Alexander Lukaschenko besucht die Luftwaffe am 15. Mai in Minsk Foto: Press Service of the President of the Republic of Belarus/reuters

MINSK taz | Beim Schach nennt man es „Zugzwang“, wenn jeder beliebige nächste Zug des Spielers zu einer Verschlechterung seiner Position führen würde, er aber trotzdem an der Reihe ist. Im politischen Spiel ist der belarussische Staatspräsident Alexander Lukaschenko gerade in einer ähnlichen Situation.

Als er nach der Parade am 9. Mai in Moskau noch vor dem Mittagessen, eskortiert von einem Rettungswagen, zum Flughafen gebracht wurde und nach Minsk zurückflog, erstarrten die in aller Welt verstreuten Belaruss*innen. Und begannen, für ihn zu beten. Aber nicht alle wünschten ihm baldige Genesung. Fünf Tage lang zeigte er sich nicht in der Öffentlichkeit. Sogar die Rede zum Feiertag des Wappens, der Flagge und der Hymne (den niemand feiert) hielt ein Stellvertreter.

In den sozialen Medien lief alles auf die Frage hinaus: „Holen wir schon mal den Sekt raus, den wir während der Proteste 2020 bereitgestellt hatten, um das Ende der Ära Lukaschenko zu feiern?“

Am 15. Mai veröffentlichte der propagandistische Telegram-Kanal Pul Perwogo ein Foto, das Alexander Lukaschenko bei einem Besuch der Luftwaffe zeigte. Mit seinem roten Gesicht wirkte er wie eine von Madame Tussauds Wachsfiguren.

Lenin kann nur liegen

Sofort tauchten Memes in den sozialen Medien auf: „Wenn du als Teenager betrunken nach Hause kamst, hast du dich auch immer bemüht, geradezustehen, damit deine Eltern dachten, alles sei okay.“ Oder: „Belaruss*innen haben zwei Probleme: Lukaschenko erscheint in der Öffentlichkeit. Oder er erscheint nicht.“ (Da ist er, der Zugzwang!; Anm. d. Autorin)

Einige Stunden später wurde das Foto durch ein kurzes Video ersetzt. Sofort begannen wieder alle zu witzeln: „Da hat der Maskenbildner ganze Arbeit geleistet! Ein ganzes Kilo Schminke!“ „Die Mumie Lenins kann nur liegen – unsere kann laufen und sprechen.“ Auch ein Scherztest tauchte auf: „Wie gebrechlich sind Sie wirklich?“ Kurzum: Unserem „Großväterchen“ geht es nicht gut. An der Hand hat er einen in­tra­ve­nösen Zugang, er bekommt offensichtliche starke Medikamente.

Der in Frankfurt am Main lebende oppositionelle belarussische Politologe Pawel Usow meint: „Selbst nach Lukaschenkos Tod wird niemand dem Volk und den oppositionellen Strukturen die Macht überlassen. Sie kann nur mit Gewalt übernommen werden. Nur Gewalt kann eine Übergangsregierung zu Zugeständnissen, Verhandlungen oder an einen runden Tisch zwingen. Ich sage dies ohne den russischen Kontext, der die Situation zweifellos verkompliziert.“

Seiner Ansicht nach gibt es heute keine Strukturen, die die staatliche Infrastruktur lahmlegen könnten. Aber das ist eine Sichtweise aus dem Ausland. Auf den Straßen von Minsk klingt es noch etwas drastischer. Es wird Krieg geben, denken die Menschen. Einen Bürgerkrieg um die Neuverteilung der Macht. Lukaschenkos Entourage wird sich an die Macht klammern. Und wenn Putin genügend Ressourcen hat, sich einzumischen, wird Belarus von der Landkarte verschwinden.

In der Ukraine kämpft heute in den Reihen der ukrainischen Armee das Kalinowski-Regiment, das aus belarussischen Freiwilligen besteht. Wenn diese nach Belarus einreisen dürfen, erwarten uns ein Militär­putsch und eine Militärdiktatur. Alles wird vom Patriotismus und Anstand dieser Menschen abhängen, von denen leider einige eine sehr zwielichtige Vergangenheit haben.

Die belarussische Armee ist komplett nutzlos. Wenn der Westen eine „Operation zur Entfernung des politischen Blinddarms“ unterstützt, das heißt die Opposition, ist eine Rückkehr zur Demokratie in einem Land des diktatorischen Terrors möglich. Das ist ein beängstigendes Szenario, aber das bestmögliche.

Es wird sich ein kleines Zeitfenster der Möglichkeiten öffnen. Wir dürfen diesen Moment nicht verpassen. Dieses Mal werden wir keine Blumen in den Händen halten wie 2020. Sondern Waffen, um Gerechtigkeit zu erringen.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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