Die Jahre der Entspannung

Rot-Grün, wir danken dir (12): Sechzehn Jahre Opposition politisierten den jungen Menschen, bevor dann das Gute siegte und Ruhe einkehrte

Zu danken habe ich: Für die Jahre der Entspannung, die ich nach dem Triumph von 1998 erleben durfte, die zugleich aber eine derart satte Ruhe mit sich brachte, dass jegliches politisches Interesse in mir erstarb. Vor allem danke ich dir aber für 16 Jahre Opposition, eine Zeit, die mich in dem nicht nachlassenden Gefühl aufwachsen ließ, dass mit diesem Land irgendetwas nicht stimmt, dass hier ein gewaltiger Irrtum vorliegen muss. Gerade die Tatsache, dass Rot-Grün so lange und so chancenlos gegen den Block der schwarzen Aussitzer in der zweiten Reihe stand, hat mich nämlich den Widerstand gelehrt, auch wenn ich das damals noch nicht wusste. Rot- Grün, der ewige Verlierer hat mich also zu einem politischen Menschen gemacht.

Dank meiner ersten Antiatomkraftdemo, die ich beim samstäglichen Einkauf an der Hand meiner Mutter zufällig mitbekam, entdeckte ich, das Einzelkind, früh den Reiz von Sitzstreik und Gemeinschaft. Aufregend war auch das Jahr, in dem ich in ständiger – und geheim gehaltener – Furcht vor einem Atomkrieg lebte und mich mit Bundestagsdebatten zu beruhigen suchte, die ich nachmittags im Fernsehen verfolgte. Aus dieser Zeit stammt auch eine selbst gefertigte Karikatur, die Heiner Geißler als gemeine Teufelsfratze zeigt.

Währenddessen saßen meine Eltern mit ihrer privaten Toskanafraktion beim Bordeaux und analysierten sonntags die – wieder mal – verloren gegangene Wahl. Mit Grün experimentierten sie auf ihre Weise: Noch bevor sie es zum ersten Mal wagten, die Grünen zu wählen, nahmen sie den grünen Gedanken oral in sich auf. Zum Frühstück gab es jetzt nur noch Müsli, das mein Vater am Vorabend von Hand gemahlen und über Nacht eingeweicht hatte. Als sich der Gedanke immer mehr in mir festzusetzen begann, gegen den Schatten des „schwarzen Elefanten“, wie mein Vater den heutigen Altkanzler zu nennen pflegte, könne man eh nichts ausrichten, geschah Folgendes: Eine Tochter des damals noch aufstrebenden Wolfgang Schäuble wurde in meine Klasse versetzt. Das Mädchen war von auffallend aggressiver Natur, schrie in Diskussionen immer nur „Nein, nein, nein!“, während sie mit der Faust auf den Tisch schlug. Bei einer Geburtstagsfeier in der Politikervilla entdeckte ich hinter dem Küchenvorhang einen Alarmknopf mit der Aufschrift „Polizei“. Das weckte mich schlagartig: „So gefährlich sind diese Leute also“, dachte ich und wusste, bestimmter als je zuvor, dass der Dicke weg muss.

Ich glaube, ich muss Rot-Grün sogar für die Wahl meines Studienfachs danken. In meiner ständigen Opposition, zum Fach wie zu den Kommilitonen, sollte sich in mir vor allem eines festigen: das Wissen um die Menschen, Ansichten und eine Zukunft, die ich nicht will.

Mein Ausflug in die Sekte „Linksruck“ war noch ein letztes Aufbäumen, meine letzte politische Aktion. Mit selbst gemalten „Birne muss weg!“-Plakaten, auf denen jeweils eine sehr frei interpretierte Birne zu sehen war, begleiteten mein damaliger Freund und ich Kohls letzten öffentlichen Auftritt. Noch dieser eine erhebende Moment, dann siegte das Gute, und alles um mich herum wurde ganz still und leer. Aus einsichtigen Gründen steckt in den kommenden 16 Jahren also für mich – und das beziehe ich jetzt nur auf mich! – neben der ganzen Furcht auch ein gewisses Potenzial.

LORRAINE HAIST