Studie zu Lesekompetenz: Drei von Vier können lesen

Eine Studie zeigt: Viert­kläss­le­r*in­nen in Deutschland können immer schlechter lesen. Auch die Leistungsunterschiede nehmen zu. Was tun?

Drei Kinder lesen im Schein ihrer Taschenlampen ein Buch

Diese hier sind hochmotiviert: Leseratten mit Taschenlampen unter der Bettdecke Foto: picture alliance

BERLIN taz | Eine wachsende Zahl an Kindern in Deutschland kann immer schlechter lesen. Das ist die durchaus ernüchternde Erkenntnis der neuen Iglu-Studie, einem internationalen Langzeitvergleich zur Lesekompetenz von Viertklässler*innen, der am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde. Demnach erreichen 25 Prozent dieser Altersgruppe nicht die Mindeststandards im Lesen, 2016 waren es noch 19 Prozent.

Weitere zentrale Befunde des Berichts, der alle fünf Jahre erscheint und sich auf Daten von 2016 bis 2021 bezieht: Der Anteil der guten Schü­le­r*in­nen nimmt leicht ab, zugleich werden die Leistungsunterschiede in den Klassen immer größer. Mit anderen Worten: Es gelingt nach wie vor nicht, den Bildungserfolg eines Kindes von seiner Herkunft, vom Faktor Elternhaus, zu entkoppeln.

„Wir sehen, dass die Maßnahmen der letzten 20 Jahre keine Wirksamkeit haben“, sagte Nele McElveny, Schulentwicklungsforscherin an der TU Dortmund. Sie hatte gemeinsam mit anderen Wis­sen­schaft­le­r*in­nen im Auftrag der Kultusministerkonferenz (KMK) die Daten für Deutschland erhoben. Immerhin: Nimmt man den Mittelwert der gemessenen Kompetenz, belegt Deutschland im europäischen Vergleich einen Platz im Mittelfeld.

Allerdings: 2001, bei der ersten Iglu-Studie, war man noch in der Spitzengruppe vertreten. Auch in der Breite nimmt die Lesefähigkeit also ab. Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) nannte die Daten „alarmierend“. Besonders ernüchternd, auch aus Sicht von Studienleiterin McElveny: „Die Bildungs- und Chancengerechtigkeit hat sich nicht geändert.“ das habe nicht nur „hohe Kosten für das Individuum, sondern letztlich für die ganze Gesellschaft“.

Nur Bulgarien steht schlechter da

Das absinkende Leseniveau behindere „individuelle Entwicklungschancen ein und ist keine gute Voraussetzung zur Bekämpfung des Fachkräftemangels“, sagte die bildungspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Nina Stahr. Ihre Kollegin von der Linken, Nicole Gohlke forderte eine „Fachkräfteoffensive“ gegen den Lehrkräftemangel, sonst nützten alle Förderansätze nichts. Die Gewerkschaft GEW verlangte am Dienstag gar ein „100-Milliarden-Euro-Programm für Investitionen in die Bildung“.

Stereotype auf Seiten der Leh­re­r*in­nen scheinen ein signifikanter Grund zu sein, warum es mit der Bildungsgerechtigkeit seit Jahrzehnten nicht vorangeht: Kinder aus Facharbeiterfamilien müssten deutlich besser lesen als Kinder aus Akademikerfamilien, um eine Gymnasialempfehlung zu bekommen, zeigen die Daten. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind aus einem Beamtenhaushalt eine solche Empfehlung bekommt, sei 2,5-mal höher als für ein Arbeiterkind, sagte McElveny.

Nur Bulgarien stehe in der Vergleichsgruppe schlechter da als Deutschland, was den Zusammenhang von Herkunft und Leseleistung angeht, betonte Sabine Döring, Staatssekretärin im Bildungsministerium. Sie zeigte sich am Dienstag in der Bundespressekonferenz ebenfalls maximal alarmiert: „So darf es nicht weitergehen. Wir brauchen dringend eine bildungspolitische Trendwende.“

Tatsächlich sind die Gründe für die stetig abnehmende Leseleistung laut Iglu struktureller Natur. Die Pandemiejahre jedenfalls könnten den besonders starken Einbruch bei der Lesekompetenz nur teilweise erklären, so McElveny.

Für viel entscheidender hält sie, dass in Deutschland einerseits zu wenig gelesen werde – 59 Minuten weniger pro Woche als im OECD-Mittel – und andererseits, salopp gesagt, bei den Lehrkräften durchaus noch Weiterbildungsbedarf gibt, wie man Kinder überhaupt zum Lesen motiviert. „Eine gute Klassenführung ist aber gerade in der Grundschule zentral“, sagt McElveny. Es müsse wieder gelingen, Kinder für das Lesen zu begeistern, auch in der Freizeit – was gerade angesichts der Konkurrenz mit Smartphone, Tablet und Co. nicht leichter geworden sei.

Wie die Motivation der Kinder besser zunutze machen?

Nur: Wie kann die eingeforderte „Trendwende“ gelingen? Bildungsforscherin McElveny bemühte sich, zumindest einen positiven Befund in den Vordergrund zu stellen: Die Kinder gehen gerne zur Schule, sie nehmen Schule „als einen positiven Ort wahr“. Diese „Schulzufriedenheit“ habe sich seit 2016 – ob trotz oder wegen der Homeschoolingzeit ist nicht klar – sogar gesteigert. Diesen Hoffnungsschimmer wollte dann auch die gerade ins Amt gekommene Berliner Bildungssenatorin und KMK-Präsidentin Katharina Günther-Wünsch (CDU) ergreifen: „Die Schulzufriedenheit stimmt mich positiv, weil das überhaupt die Voraussetzung ist, um höhere Lesekompetenz möglich zu machen.“

Die Motivation der Kinder ist also durchaus vorhanden – die Frage ist, wie macht man sie sich erfolgreicher zunutze macht als bislang. Die Wis­sen­schaft­le­r*in­nen sagen: mit mehr Leseunterricht in den Schulen und eine zielgerichtetere Förderung, was eine bessere Diagnostik von Lernschwächen einschließt. Zugleich müssten die Familien stärker einbezogen werden – und zwar idealerweise schon dann, wenn die Kinder noch in der Kita sind.

Staatssekretärin Döring nannte Singapur als Beispiel: 2001 habe der asiatische Inselstaat noch hinter Deutschland gelegen, nun liege er in der Spitzengruppe. Das Land teste vor der ersten Klasse „flächendeckend“ die Lesekompetenz und fördere dann gezielt. Ähnlich gute Erfahrung habe man dazu auch in Hamburg gemacht.

Döring nutzte den Appell aus der Wissenschaft nach passgenauer Förderung, um nochmal eine deutliche Botschaft an die Bundesländer loszuwerden: Diese sperren sich aktuell bei der Co-Finanzierung des Startchancenpakets, das Brennpunktschulen gezielt helfen soll. Ab 2024 will der Bund 400 Schulen über zehn Jahre hinweg mit insgesamt einer Milliarde Euro fördern – vorausgesetzt, die Länder tragen die Hälfte der Kosten.

Doch diese beharren bislang darauf, die Gelder in erster Linie nach Königsteiner Schlüssel zu verteilen – soziale Kriterien wie die Muttersprache der Schü­le­r*in­nen und der Anteil von Familien, die Jobcenter-Leistungen bekommen, sollen lediglich fünf Prozent ausmachen. In den laufenden Haushaltsberatungen muss bald eine Lösung her, sonst ist eine Umsetzung 2024 utopisch. Umso eindringlicher fiel der Appell von Staatssekretärin Döring aus: Die Länder sollten nicht auf den Königsteiner Schlüssel beharren, sondern sich „für Chancengerechtigkeit“ einsetzen. „Der traurige Smiley muss wieder lächeln. Das sind wir unseren Kindern schuldig.“

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