78. Jahrestag der Kapitulation: Kampf um Deutungshoheit

Auch in Berlin erinnern sich am 9. Mai Hunderte an den Sieg über Hitler-Deutschland. Überschattet wird das Gedenken vom russischen Angriffskrieg.

Pro-ukrainische Aktivisten bzw. Mitglieder der russischen Opposition sind bei einer Gedenkveranstaltung zum Sieg Russlands im Deutsch-Sowjetischen Krieg am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park zu sehen

Pro-Ukrainische Ak­ti­vis­t:in­nen machen auf Russlands Verbrechen in der Ukraine aufmerksam Foto: Christoph Soeder

taz | Der ukrainische Superman hält sich mit seiner Kritik wenig zurück: „Putin ist ein Arschloch“, ruft der in einem Superheldenkostüm mit ukrainischer Flagge gekleidete Mann den Be­su­che­r:in­nen der Gedenkveranstaltung am Dienstag am Sowjetischen Ehrenmal am Treptower Park zu. „Geh an die Front und lass dich erschießen“, antwortet ein älterer Mann, es folgt ein wüster Austausch an russischen Beleidigungen.

Auch in diesem Jahr wird das Gedenken zum „Tag des Sieges“ vom russischen Angriffskrieg überschattet. Neben der russischen Community und zahlreichen offiziellen Delegationen aus Russland und anderen Staaten der ehemaligen Sowjetunion kamen auch in diesem Jahr ukrainische Aktivist:innen, um bei der zeremoniellen Kranzniederlegung auf dem sowjetischen Soldatenfriedhof gegen den Krieg in der Ukraine zu protestieren.

„Dieser Sieg darf nicht von Putin instrumentalisiert werden“, sagt Alex Schumski vom pro-ukrainischen Verein Demokrati-Ja, der auf dem Vorfeld des Denkmals eine kleine Protestkundgebung abhält. Schumski kritisiert den „Siegeswahn“, der die Feierlichkeiten mittlerweile umgibt. Früher habe man in Russland gesagt: „Feiere mit Tränen in den Augen“, erinnert sich Schum­ski, der selbst in Moskau studiert hat. Heute hieße es: „Wir können es noch mal.“

Einen Tag später als in Deutschland wird am 9. Mai in vielen Länder des postsowjetischen Raums der Sieg über Nazi-Deutschland gefeiert. Neben dem Gedenken im Treptower Park gab es auch eine Parade am Brandenburger Tor. Der Großteil der mehreren hundert Besucher:innen, die am Dienstagmorgen zur traditionellen Kranzniederlegung gekommen sind, haben einen Bezug zur ehemaligen Sowjetunion: Rus­s:in­nen und Russlanddeutsche, Di­plo­ma­t:in­nen der ehemaligen Sowjetrepubliken wie Kasachstan und Usbekistan, bärtige und in Roben gekleidete Patriarchen der orthodoxen Kirche.

Instrumentalisiertes Gedenken

Während in Russland der 9. Mai in den letzten Jahrzehnten vom Feiertag in ein Fest des russischen Nationalismus umgewandelt wurde, wie Schumski kritisiert, bleibt im Treptower Park nach außen das Gedenken würdevoll. Familien kommen in mehreren Generationen, viele haben Bilder ihrer Groß- oder Urgroßväter mitgebracht, die für den Sieg der Sowjetunion und damit eben auch die Befreiung Deutschlands gekämpft haben oder gefallen sind. Auf dem Altar im Sockel der zwölf Meter hohen Soldatenstatue legen sie Blumen und Kränze ab.

Dass der 9. Mai nicht als Propagandashow russischer Nationalisten missbraucht wird, liegt auch an dem Verbot russischer und sowjetischer Fahnen, die das Oberverwaltungsgericht im Vorfeld der Gedenktage erlassen hat. An den abgegitterten Eingängen setzt die Polizei das Verbot konsequent um: Russland-T-Shirts müssen überdeckt werden, St.-Georgs-Bänder abgenommen.

Das orange-schwarz gestreifte St.-Georgs-Band, das in Russland traditionell am 9. Mai getragen wird, aber auch als Symbol für die Unterstützung der Politik Wladimir Putins gilt, fiel gleichfalls unter das Verbot. Eine Ausnahme machte die Polizei für die Mitglieder der russischen Delegation bei der Kranzniederlegung.

Darüber, welchen Bezug der Sieg über Nazi-Deutschland mit dem aktuellen Krieg in der Ukraine hat, möchte sich gegenüber der Presse fast niemand äußern.

Unterschwelliger Nationalismus

Am Stand der Kundgebung von Demokrati-Ja wird die Position vieler Teil­neh­me­r:in­nen dann doch deutlich: „Ihr führt seit 2014 Krieg gegen die Menschen im Donbass!“, ruft eine ältere Frau den ukrainischen Ak­ti­vis­t:in­nen zu und folgt damit der russischen Propagandaerzählung, der Zweck des Angriffskriegs wäre eigentlich nur der Schutz der ostukrainischen Bevölkerung.

Ähnliche Erzählungen hört man auch beim Stand der kommunistischen DKP, die jedes Jahr an dem Gedenken teilnimmt. Russlands Angriffskrieg diene allein der Selbstverteidigung gegenüber der Nato, berichtet eine ältere Frau.

Ein klares Zeichen gegen diesen unterschwelligen russischen Nationalismus setzt hingegen der Verein der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten (VVN-BdA), die ebenfalls mit einer Kundgebung vor Ort sind. „Nie wieder Krieg“ steht auf Deutsch, Ukrainisch und Russisch auf einem Banner des Vereins. Es sei unmöglich, den heutigen und den damaligen Krieg voneinander zu trennen, sagt VVN-BdA-Mitglied Markus Tervooren. „Sowjetische Veteranen, die bei uns Reden gehalten haben, endeten immer mit der Formel: ‚Wir hoffen, dass es nie wieder Krieg gibt.‘ Heute schießen die Enkel aufeinander.“

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