Ein Ort, der nicht in die Zeit passt

Alle Kurzgeschichten in Tobias Schwartz’Band „Landkrank“ spielen in der Trostlosigkeit Emlichheims im Nordwesten Deutschlands. Ganz unterschiedlich erzählt jede von ihnen von Menschen, die entkommen wollen – und die das Land ganz krank macht

In Emlichheim allgegenwärtig: Silhouette einer Pferdekopfpumpe für Erdöl im Sonnenaufgang Foto: Friso Gentsch/dpa

Von Hagen Gersie

Alles ist braun oder schimmelig-grau. Die Landschaft ist von sandigen Kartoffeläckern durchzogen, seitdem die Knollenpflanze im deutschsprachigen Raum eingeführt wurde. Im Nordwesten Deutschlands, in der Grafschaft Bent­heim – deren Grenzen der Legende nach Napoleon mit einem über das Lineal stehenden Daumen beim Kartenzeichen versehentlich schuf —, herrscht der Erdapfel. Was vor knapp zweihundert Jahren galt, gilt heute umso mehr. In Emlichheim, einer Gemeinde in der Region, steht heute die größte Kartoffelstärkefabrik Europas.

Dort, in der nordwestdeutschen Einöde, spielt Tobias Schwartz’ Kurzgeschichtenband „Landkrank“. Schwartz kommt gebürtig aus Emlichheim, lebt seit vielen Jahren in Berlin und hat bereits zwei Bücher über seine Heimat geschrieben. Dieses dritte Buch nun versammelt sieben Geschichten, die zwischen 1800 und heute spielen.

Die darin vorkommenden Figuren sind nicht sonderlich divers – meist sind die Protagonisten weiß und männlich. Allerdings beansprucht der Autor auch nicht, die Erfahrungen seiner Protagonisten als Universalschicksal zu erzählen. Es sind jeweils sehr spezifische Geschichten, die eine geografische und thematische Ähnlichkeit haben.

Diese thematische Ähnlichkeit besteht, wie der Titel schon sagt, im Erkunden des Lebens im ländlichen Raum, das hier von seiner dunklen Seite gezeigt wird.

Die meisten Figuren wollen auf die eine oder andere Weise entkommen oder man wünscht ihnen, entkommen zu können. Im Fall der Fluchtgeschichte einer deutsch-jüdischen Familie aus Berlin endet die Flucht für Teile der Familie in Bentheim, als diese vor dem Grenzübergang in die Niederlande von den Nazis festgenommen werden. Nur Tochter Lotte kommt per Glück über die Grenze und überlebt. Was mit ihrer Mutter und Schwester passiert, sagt die Erzählung nicht – diese Lücke füllt das eigene Geschichtswissen.

Diese Fluchtgeschichte sowie eine Erzählung zu Karl August Varnhagen, dem späteren Ehemann der jüdischen Schriftstellerin Rahel Varnhagen, sind die beiden historischen Geschichten des Buches. Varnhagen jedoch bleibt im Gegensatz zu Lotte auf seiner Reise in der Grafschaft im frühen 19. Jahrhundert erzählerisch profillos. Hier braucht es sehr spezifisches Vorwissen, um die Ereignisse um ihn interessant werden zu lassen.

Obwohl dies die einzigen beiden wirklich historischen Kurzgeschichten sind, spielt keine der Erzählungen in der unmittelbaren Gegenwart. Ganz so, als ob dieser Ort als zeitgenössisches Phänomen gar nicht denkbar wäre. Damit haftet dem Schauplatz der Geschichten etwas Vergangenes an. Es ist ein Ort, der nicht in die Gegenwart passt.

Zumindest für den Autor tut er das nicht, denn egal, ob es um triste Landschaften, das Heranwachsen mit und in Scheunenpartys, Träumen von der großen Stadt oder sogar Kindesmissbrauch und Suizid geht, das Land in diesem Band macht krank.

Was bei Varnhagen leider fehlt, macht Schwartz in der ersten Erzählung gut: Die Polizei verdächtigt den neunjährigen Steffen, einen großen Papiermüllcontainer angezündet zu haben. Obwohl er den ganzen Tag mit dem Freund seiner Mutter vor dem Fernseher saß, lässt der den Jungen im Stich und schützt ihn nicht vor dem Polizisten, der ihn im Polizeiwagen ein falsches Geständnis aufzwingt.

Der Verrat, den die beiden Männer an dem Jungen begehen, ist für jeden spürbar, der sich als Kind mal von Erwachsenen betrogen gefühlt hat. Schwartz ist dann am stärksten, wenn die persönlichen Dramen konkret sind, die Figuren nachvollziehbar und ihre Erlebniswelt an eigene Erfahrungen anknüpft. Schwartz gibt seinen Figuren auch gern ganz eigene Passionen: Lotte liebt Fontane und deutsche Literatur, Jonas ist so sehr von Vögeln begeistert, dass er sie selbst züchtet.

„Landkrank“ ist der dritte Teil einer als Tetralogie angelegten Buchreihe über Emlichheim. Dabei konzipiert Schwartz die Reihe als eine Art literarische Sinfonie: der erste Satz schnell und lebendig, der zweite ruhig, der dritte – „Landkrank“— wechselhaft und zügig und am Schluss soll ein großes Romanfinale stehen.

Und wechselhaft ist das Buch durchaus. Wenngleich Stimmungen und Atmosphären aufkommen, stolpert es sprachlich hin und wieder. Hier ein Adjektiv zu viel, dort ein eingeschobener Nebensatz, den es nicht braucht. Manche Sätze sind zu schwerfällig. Das ist etwas schade, da sich so die Sprache in manchen Momenten unangenehm bemerkbar macht. Dadurch kann keine der Geschichten so richtig herausstechen.

Trotz dieser Ungenauigkeiten und kleinen Stilbrüche transportieren alle Geschichten zusammen das Gefühl dieses Ortes: wie es ist, dort aufzuwachsen, die Rohheit und mitunter Gewalt, die stellenweise Trostlosigkeit und im Ganzen das Land als krankmachende Struktur.

Tobias Schwartz, Landkrank. Erzählungen. Elfenbein-Verlag 2022, 272 S., 24 Euro; Lesungen: Mi, 10. 5., 20 Uhr, Neuenhaus, Ska – Soziokulturelles Zentrum; Do, 11. 5., 19 Uhr, Osnabrück, Altstädter Bücherstuben; Di, 27. 6., 19 Uhr, Braunschweig, Buchhandlung Goeritz