Reiseproviant regt an und auf: Nehmen Sie Stullen mit in den Zug?

Harte Eier, belegte Brote – Reiseproviant ist ein Vergnügen. Wäre da nicht der Groll der Backshop-Fraktion. Ein Pro und Contra.

Eine Ablage im Zug, darauf hartgekochte Eier und eine Tupperdose mit Möhren, Tomaten und Trauben

Kaum fährt der Zug los, steht die Frage im Raum: „Was haben wir zum Essen dabei?“ Foto: Sebastian Wells

Ja!

Ich packe unsere Provianttasche und drin sind vier Käsestullen. Ich packe unsere Provianttasche und drin sind vier Käsestullen und zwei hartgekochte Eier … Ich packe unsere Provianttasche und drin sind vier Käsestullen, zwei hartgekochte Eier, drei Äpfel, eine Packung Haferkekse, eine Dose Kartoffelsalat, ein Joghurt mit Löffel, eine Tafel Schokolade, zwei Flaschen Wasser, Nüsse mit Maulbeeren, eine Tüte mit Linsenchips und Turkish Delight. Mindestens. Denn das Erste, was mich und meine Freundin interessiert, sobald wir es uns in unseren Sitzen im Zug in den Süden bequem gemacht haben, ist die Frage: „Was haben wir eigentlich zum Essen dabei?“

Dieser Reflex, ans Essen zu denken, sobald der Zug losfährt, befällt viele. Schlimm, wenn dann nur eine klitschige Brezel von Ditsch und eine überzuckerte Cola der Coca-Cola-Company vor einem stehen. Wobei „schlimm“ untertrieben ist, denn das, was dann da steht, sind keine Nahrungsmittel, sondern Füllstoff und Kloreiniger.

Selbstversorgung ist der Ausweg, weil auch aufs Bordrestaurant nicht immer Verlass ist – zumal es kostet. Aber was sich noch herumsprechen muss: Der Provianttasche sollte beim Packen mindestens so viel Aufmerksamkeit zuteilwerden wie dem Koffer. Es geht dabei nämlich nicht nur ums leibliche Wohl. Es geht auch darum, Durststrecken durchzustehen. Und darum, mit Essen Kontakte zu knüpfen und soziale Kompetenz zu zeigen.

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Es geht auch darum, sich einzurichten in den Stunden, in denen jemand anderes dafür sorgt, dass die Wünsche nach dem Ortswechsel erfüllt werden. Und darum, dass dies in einer Art Geborgenheit geschieht. Denn das Abteil ist wie ein Mutterkuchen, die Zugstrecke wie ein Tunnel, die Ankunft wie eine Geburt. Ist so. Wenn ich Liebeskummer hatte, habe ich es nur in Zügen ausgehalten, weil ich mich geschützt fühlte. Nur dort konnte ich etwas essen, außerhalb war mein Magen verschlossen.

Weil das hier ein ehrlicher Text ist, muss ich zugeben, dass auch ich die Bedeutung der Provianttasche erst lernen musste. Ich lernte es von meiner Freundin. Sie ist gebürtige Westberlinerin. Wenn sich ihre Familie aufmachte in den Urlaub und dabei zwangsläufig „die Zone“ durchfahren musste, war Proviant lebensrettend. „Konnte doch sein, dass wir stundenlang an einer Grenze feststeckten“, sagt sie. Seither packt sie sogar etwas zum Essen ein, wenn sie vom Wedding nach Charlottenburg fährt. Man wisse ja nie.

Gut, das finde ich jetzt auch etwas übertrieben, aber was den Zug angeht, hat sie recht. Denn nicht selten steckt man auch heute fest. Signalstörung, Weichenstörung, Erdrutsch, Tiere auf dem Gleis. Wer Proviant dabeihat, kann sich zurücklehnen, Verspätung sammeln und auf diese Weise ganz relaxt: Geld verdienen mit der Deutschen Bahn. Eine Stunde 25 Prozent, zwei Stunden 50 Prozent des Fahrpreises. Das läppert sich.

Der allerschönste Moment aber: wenn man im Zug in solch unsicheren Verspätungsmomenten Proviant dabeihat und mit anderen teilen kann. Neulich war so eine chaotische, nächtliche Fahrt mit Strom- und Systemausfall. Und später, als doch wieder ein Zug fuhr, stiegen Hunderte gestrandeter, leidensfähiger Herthafans zu, müde von einer verlorenen Partie. Einer von ihnen schenkte mir eine Mandarine. Und ich schwöre, ich habe noch nie vorher eine so süße gegessen. Waltraud Schwab

Nein!

In den Zug kiloweise Reiseproviant mitzunehmen und ausgiebig zu essen ist egoistisch und gehört sich nicht. Wem nach Brotzeit ist, der soll zu Hause bleiben – oder ein Picknick machen. Doch stattdessen kommt bei fast jeder Zugfahrt mindestens eine Person den Gang entlanggeschlurft, der man ihre Proviantliebe an der Nasenspitze ansieht. Keine zwei Minuten nach Abfahrt knallt die ihre giftgrüne Thermoskanne auf den Tisch, wühlt in ihrem Rucksack und holt eine Tupperdose hervor. Darin matschige Pampe mit harten Brocken, die laut krachen, wenn die Person sie im Mund zerkaut. Sie stochert darin rum, schmatzt und füllt sich Tee nach, der übel nach gammliger Erde stinkt.

Konkreter? Hier ein Beispiel aus der Vorwoche: Neben mir eine Gruppe von drei Frauen kurz vor dem Rentenalter. Sie sitzen laut schnatternd am Vierertisch. Umgeben von Plastikbehältern mit geschnittenem Gemüse. Paprika, Möhren und – das Schlimmste überhaupt – Kohlrabi. Sie knuspern, sie lachen, sie kauen laut und plaudern in tiefstem Schwäbisch. Sie nehmen mit ihren Boxen und Flaschen, mit ihren Gläsern voll Brotaufstrich und Kekstüten beinahe den ganzen Tisch ein, der schüchterne Anfangzwanzigjährige, der neben ihnen sitzen muss, rückt seinen Laptop so nah an die Tischkante, dass der beinahe runterfällt.

Oder, erinnern Sie sich noch an die Coronazeit, als die sich für besonders schlau Haltenden die Maskenpflicht im Zug umgingen, indem sie pausenlos Salzstangen, Nüsse oder Chips in sich hineinstopften?

Andere brauchen keine Pandemie, um sich im Zug danebenzubenehmen. Ein Bekannter erzählte kürzlich von zwei Frauen, die einen Wasser­kocher dabeihatten und sich eine Tütensuppe zubereiteten. Ernsthaft?! Wurstbrote, die stinken. Kekse, die krümeln. Hartgekochte Eier, die noch geschält werden müssen, vereinen beides: den schlimmen Geruch und die schlimmen Geräusche. Dazu die Hinterlassenschaften auf den Tischen.

Menschen, die im Zug speisen und alle 30 Minuten im Jutebeutel nach neuer Nahrung kramen, sind häufig Gelegenheitsfahrer. Für sie ist eine Zugfahrt ein Ereignis, das mit zu Hause liebevoll zubereitetem Proviant zelebriert wird. Oh, was haben wir denn hier noch? Ah, darauf hab ich nun Lust. Heidrun, gibt’s noch Tee?

Nichts gegen Gelegenheitsfahrer, sie wissen es ja vielleicht nicht besser, aber der Zug ist öffentlicher, nicht privater Raum. Und in dem hält man sich an sozial vereinbarte Normen. Nimmt Rücksicht auf Mitmenschen.

Man richtet sich also nicht häuslich ein, man telefoniert nicht stundenlang mit dem Freund, man zieht seine Schuhe nicht aus und man lackiert sich nicht die Nägel. Man schnarcht nicht laut, man unterhält sich auch nicht angeregt über die miese Beziehung, den ungeliebten Job oder die autoritären Grünen. Und man isst auch kein üppiges Abendbrot. Es ist übergriffig und nervt die Mitfahrer.

Man kauft sich vor Fahrtbeginn ein nicht stinkendes, nicht zu knackiges Gebäckstück, isst es in den ersten zehn Minuten nach Start und guckt dann Netflix mit Kopfhörern oder liest ein Buch. Und dann gibt es ja auch noch ein Bordbistro. Das wurde erfunden, um dort zu essen. Paul Wrusch

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