Chinas Weg zur Marktwirtschaft: Das geplante Wunder

Isabella Weber schildert, wie China in den 80ern mit Märkten experimentierte. Es vermied den Irrweg, der Russland in den Abgrund führte.

Zwei Bauarbeiter tragen Bausteine

Übergang zur Marktwirtschaft: Eine Frage der Balance Foto: David Gray/reuters

Eines der erstaunlichsten wirtschaftspolitischen Phänomene der letzten Jahrzehnte ist der Rollentausch zwischen Russland und China. Im 20. Jahrhundert war Russland im Vergleich mit dem armen Nachbarn fast wohlhabend. Seit 1990 hat sich dieses Verhältnis radikal umgedreht. Das durchschnittliche Realeinkommen in Putins Reich ist seit 1991 gesunken, in China hat es sich vervierfacht. Die russische Wirtschaft ist abhängig von Rohstoffexporten, die chinesische konkurriert auf Augenhöhe mit OECD-Ländern.

Dieser Prozess ist verblüffend – denn die Ausgangsbedingung für Moskau und Peking in den späten 80er Jahren war ähnlich. Hier wie dort versuchten verzweifelte kommunistische Führungen, unproduktive Staatsökonomien in Marktwirtschaften zu verwandeln. In China war das Ergebnis glanzvoll, wenn auch mit extremer Ungleichheit bezahlt, in Russland ein Fiasko mit Hyperinflation und massenhafter Armut. Warum?

Isabella M. Weber: „Das Gespenst der Inflation. Wie China der Schocktherapie entkam“.

Aus dem Englischen von Stephan Gebauer, Suhrkamp, Berlin 2023, 544 Seiten, 32 Euro

Diese Frage leuchtet im Hintergrund der Studie von Isabella Weber, die Miterfinderin der Gaspreisbremse und ein rising star in der globalen Ökonomenszene ist. Auf 500 Seiten analysiert sie haarklein, wie China in den 80er Jahren versuchte, Märkte zu etablieren und zu bändigen.

Dabei entschied China keineswegs ­autark, sondern holte sich international Rat. In Peking gaben sich in den 80ern Ökonomen die Klinke in die Hand. Milton Friedman, Gott der Neoliberalen, plädierte für so viel Markt so schnell wie möglich. Auch ernüchterte osteuropäische Reformer wie Ota Šik, der das Wirtschaftsprogramm des Prager Frühlings 1968 skizziert hatte, warben für eine schnelle Schocktherapie. Sie fürchteten, dass, wie in Ungarn und Jugoslawien, ein bisschen Markt verpuffen würde, ohne die Produktivität entscheidend zu steigern. Keynesianer wie James Tobin warnten vor zu viel Tempo.

In China rangen zwei Fraktionen um den richtigen Weg zu mehr Wettbewerb. Eine setzte auf vorsichtige Schritte und staatliche Preise, vor allem um eine Hyperinflation zu vermeiden. Die andere hoffte euphorisch auf den big bang, die völlige Freigabe der Preise.

Der Dissens zwischen Zögerern und Neoliberalen war nicht die Frage, wohin, sondern wie schnell. Die aber war entscheidend. Und der Ausgang dieses Kampfes war ungewiss. Zweimal, 1986 und 1988, schien die Schocktherapie-Fraktion die Oberhand zu gewinnen. Als 1989 die Inflation auf 28 Prozent stieg, bremste Peking die Preisliberalisierung wieder ab.

Letztlich setzten sich die zögernden Pragmatiker durch. China behielt lange ein zweigliedriges Preissystem. Der Staat bestimmte die Preise grundlegender Güter. Die Überschussproduktion und Luxusgüter wurden nach und nach frei gehandelt. Man folgte dem chinesischen Sprichwort „Nach den Steinen tastend den Fluss überqueren“, eine Methode, die an Karl Poppers Stückwerk-Sozialtechnik erinnert, laut der nicht revidierbare Entscheidungen zu vermeiden sind.

Ordoliberale gegen die Schocktherapie

Unterstützung bekamen die Zögerer in Peking von unerwarteter Seite: von deutschen Ordoliberalen. Während Milton Friedman der chinesischen Führung das deutsche Wirtschaftswunder und Ludwig Erhards Preisfreigabe 1948 als leuch­tendes Vorbild empfahl, rieten Hans-Karl Schneider und Herbert Giersch, beide stramme Ordoliberale, ab. Eine abrupte Preisfreigabe wie bei Erhard funktioniere nur mit einem ausgebildeten Rechtssystem und Unternehmen, die Märkte verstehen. Solange beides in China fehle, würde eine Schocktherapie schaden.

Wenn man mit der chinesischen Innenpolitik der 80er Jahre nicht vertraut ist, liest sich manches etwas strapaziös. Doch gerade die präzise Nachzeichnung der Kämpfe, Ausweich- und Suchbewegungen der beiden Fraktionen, die wiederum mit dem ZK kurzgeschlossen waren, macht den Wert dieses Buches aus. Nicht genug zu rühmen ist, dass die Autorin in China mit Veteranen der Reformstreits lange Interviews führte.

So endet diese akribische Darlegung mit einer Art Rehabilitierung. Man erfährt, dass die Anhänger der neoliberalen Schocktherapie nach dem Tian’anmen-Massaker 1989 in China teils steile Karrieren machten. Die Pragmatiker, in westlicher Lesart eher KP-nah, landeten hingegen im Off oder im Exil und wurden von der historischen Forschung eher wenig beachtet.

Die neoliberalen Sirenengesänge

Zhao Ziyang, Ministerpräsident in Peking von 1980 bis 1987, der heimliche Held in „Das Gespenst der Inflation“, vermittelte zwischen den beiden Fraktionen. Er versuchte die Niederschlagung der Studentenbewegung 1989 zu verhindern – und bezahlte dies mit Hausarrest bis zu seinem Tod 2005.

In Russland gab Jelzin 1992 alle Preise frei und öffnete den Weg in die Hölle. Dass der Markt wie ein Deus ex Machina alles schaffen würde, was er brauchte, war eine neoliberale Illusion, die träge mafiotische Oligarchenherrschaft das Resultat. Die Idee, dass Preise der Kern des marktwirtschaftlichen Heils sind, der Rest Beiwerk, hat eine fast religiöse Anmutung. In Moskau hörte man auf die neoliberalen Sirenengesänge, in Peking nicht. „Die Schocktherapie ist kein Rezept für den Aufbau, sondern für Zerstörung“, so Weber.

„Das Gespenst der Inflation“ ist mehr als gut recherchierte Wirtschaftsgeschichte. Es zeigt beispielhaft, dass die Integration in die globale Marktwirtschaft nur gelingt, wenn man sich dem Markt nicht unterwirft. Und dass wie ein Zauberlehrling scheitert, wer eine unsteuerbare Marktdynamik entfesselt. Gerade das Zögern der Pragmatiker hat die Grundlagen für das chinesische Wirtschaftswunder geschaffen, das viele im Westen lange als Sieg des Marktes bestaunten und das sie nun zu fürchten beginnen.

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