High Energy, fünf Stunden lang

Die „Lange Nacht der Autor*innen“ am Deutschen Theater eröffnet die letzten Autor*innen-Theatertage in der Intendanz von Ulrich Khuon mit neuen Stücken von Caren Jess, Nele Stuhler und Lukas Bärfuss

Ananda Luna Cruz Grünbauer, Linn Reusse, Sidney Fahlisch in „Dem Marder die Taube“ Foto: Arno Declair

Von Katja Kollmann

Paul Grill blickt uns gleich zweimal an. Ins XXL-Format gebeamt erscheint er auf der rechten und linken Seitenbühne des Deutschen Theaters. Er sitzt in einer an den linken Bühnenrand gedrückten Sechziger-Jahre Box (Bühne: Katja Haß). Während der ganzen Vorstellung wird seine Stimme faszinierend zwischen Apathie und Empathie oszillieren. Jetzt, am Anfang von „Dem Marder die Taube“ versucht er sich als Herr R. an einer poetisch-banalen Annäherung an die Taube. Er formuliert dabei auch eine gewisse Erwartungshaltung: „Die Taube bewegt ihren Kopf vor und zurück. Mehr Sexy, mehr Haltung, mehr Verve wär schön“.

In dem gläsernen Kabuff, in dem Paul Grill als Herr R. sitzt, wirkt er mit seinem schütteren langen Haar und den eckigen Brillengläsern wie doppelt eingerahmt. Es ist dies „die erste Einstellung“ der über sechs Stunden dauernden „Langen Nacht der Autor*innen“, die vor zwei Tagen am Deutschen Theater die letzten Autor*innen-Theatertage in der Intendanz von Ulrich Khuon eröffnet hat. Diese ersten Minuten mit ihrer leisen Komik werden zum Gradmesser für alles, was noch kommt.

Caren Jeß' Stück „Dem Marder die Taube“ wird sich auffächern in Dialogszenen zwischen zwei einsamen Frauen, die sich emotional annähern, und surreal angehauchten Szenen mit Figuren wie aus dem Ersan-Mondtag-Kosmos gefräst: die nicht existenten Eltern der jüngeren Frau. Auf beiden Ebenen werden Konflikte verhandelt, die Figurenzeichnung ist angenehm spröde, Tragik steht neben Komik.

Die Rolle der proletarisierten Tauben-Mutti Theta Wilm, deren verbales Gepolter ihr einziger Schutzmantel ist, ist Anja Schneider auf den Leib geschrieben. Das wirklich Verzaubernde aber ist die Alltagspoetik des in dem früheren Pförtnerhäuschen der Teppich-Kibek GmbH sitzenden Herr R. Wie ein Deus ex Machina schaltet sich Paul Grill regelmäßig in die Spielszenen ein und wirft dabei ironiefreie Glitzer auf das Leben in der norddeutschen Provinz.

War in den letzten Jahren die lange Nacht der Au­to­r*in­nen der krönende Abschluss eines Gastspielreigens von Uraufführungen aus dem deutschsprachigen Raum, so wurde die „Nacht“ diesmal an den Anfang der Autor*innen-Theatertage gestellt. Das Deutsche Theater stemmt auch, im Unterschied zu den letzten Festivalausgaben, die Inszenierungen aller drei Stückaufträge alleine. Stephan Kimmig, Sarah Kurze und András Dömötör inszenieren drei Autor*innen, die dem Theater verbunden sind: Caren Jeß und Nele Stuhler waren beide 2019 das erste Mal bei den Au­to­r*in­nen Theatertagen vertreten, Lukas Bärfuss verbindet gar eine über zwanzigjährige Zusammenarbeit mit Khuon, der die Autor*innen- Theatertage am Thalia Theater Hamburg etabliert hatte und sie vor 14 Jahren nach Berlin mitbrachte.

Was Caren Jeß' „Dem Marder die Taube“ mit Stuhlers „Gaia am Deutschen Theater (Gö)“ und Bärfuss' „Verführung“ verbindet, ist nicht in der Thematik oder im Gebrauch der Sprache zu finden, es liegt in der Dramaturgie. Alle drei Stücke sind bis zum Schluss nicht vorhersehbar. Das sorgt dafür, dass sich der Energiepegel (Umbaupausen inklusive, da alle drei Inszenierungen auf der großen Bühne stattfinden) bis um kurz nach Mitternacht auf gleichmäßig hohem Niveau einpendelt.

Nele Stuhler bringt mit „Gaia am Deutschen Theater (Gö)“ ihre Gaia-Trilogie zum Abschluss. Maren Eggert, inzwischen auf die Darstellung der Stuhlerschen Gaia abonniert, kommt diesmal als Mutter Erde direkt ins Deutsche Theater Göttingen, denn da gibt es noch ein paar Übriggebliebene, die Gaia bei der Auslöschung der Gattung Mensch entgangen sind. Als Konsequenz überzeugt das Grüppchen von fünf Theaterleuten Gaia, ihre Abschaffung, so drückt sie das aus, durch Theaterspiel hinauszuzögern.

Alle drei Stücke der „Langen Nacht“ sind bis zum Schluss nicht vorhersehbar

Gaia wird so zur Regisseurin. Und was sich jetzt durch Wortspiele, Anspielungen und visuelle Zitate (Regie: Sarah Kurze) pirouettenartig dreht, ist eine humorgetränkte Selbstbespiegelung. Lisa Hrdina glänzt als „Leitung“ und dekliniert dabei alle Bedeutungen des Wortes durch. Immer wieder aber werden die personifizierten geistig etwas beschränkten Naturgewalten eingeblendet, die den Klimawandel über die Hintertür auf die Bühne lassen.

Lukas Bärfuss lässt die Tür zur Vergangenheit offen. In „Verführung“ geht es zuerst nur um einen inhaftierten ehemaligen Hochstapler. In einem dokumentarischen Text-Monolith wird dann die konkrete Tötung von Zwangs­ar­bei­te­r*in­nen im 3. Reich beschrieben. Hauke Born, in seiner Ambivalenz punktgenau gespielt von Ulrich Matthes, rechtfertigt damit die von ihm von der schwerreichen Firmenerbin ergaunerten 7 Millionen Euro, da sich deren Familie durch die Ausbeutung von Zwangsarbeit grenzenlos bereichert habe, ohne dafür jemals zur Rechenschaft gezogen worden zu sein. In den Dialogen zwischen Born, seiner Therapeutin und seiner vermeintlichen Tochter ist vor allem eine Fragestellung interessant: Wie weit dürfen solche Tatsachen zum eigenen Vorteil und zur Manipulation benutzt werden?

Im Programmblatt erfährt man von einem Gastspiel des Pfalztheaters Kaiserslautern: „Die toten Freunde (Dinosaurier-Monologe). Ein Singspiel mit dem Nachwort einer Birke“. Das Foto der Inszenierung ist mehr als schräg. Es ist definitiv was los in der Provinz.

Bis, 11. 5., deutschestheater.de