Elektronische Patientenakte: „Keine Zeit, Vertrauen aufzubauen“

Gesundheitsminister Lauterbach will die digitale Patientenakte für alle, die nicht widersprechen. Progammiererin Bianca Kastl sagt, wie es besser ginge.

Blick in ein leeres Wartezimmer

Im Wartezimmer einer Arztpraxis Foto: Katja Hoffmann/laif

taz: Frau Kastl, der Gesundheitsminister will im kommenden Jahr die elektronische Patientenakte für alle zum Standard machen. Sie sagen: Gut für die Pa­ti­en­t:in­nen ist das nicht. Warum?

Bianca Kastl: Das liegt vor allem daran, wie diese elektronische Patientenakte jetzt durchgepeitscht werden soll. Auf einmal soll es unheimlich schnell gehen, als könne man aufholen, was in Jahren versäumt wurde. Diese Geschwindigkeit führt dazu, dass die Pa­ti­en­t:in­nen überhaupt keine Zeit haben, Vertrauen aufzubauen.

Warum braucht es Vertrauen?

Bianca Kastl36, ist Entwicklerin. Sie schaut kritisch auf digitale Infrastrukturen im Gesundheitswesen und in der Verwaltung, vor allem auf deren Schwachstellen.

Es geht um Gesundheitsdaten. Die gehören zu dem Sensibelsten, was wir an Daten haben. Und für die wenigsten Nut­ze­r:in­nen dürfte die Technik hinter der Digitalisierung des Gesundheitssystems durchschaubar sein. Daher geht es nicht ohne Vertrauen. Doch der Prozess ist wahnsinnig intransparent. Und zudem wird den Pa­ti­en­t:in­nen am Ende quasi die Pistole auf die Brust gesetzt: Wer keine elektronische Patientenakte will, muss widersprechen. Alle anderen bekommen sie automatisch. Das widerspricht allem, was wir seit Jahren über Datenschutz wissen und für richtig halten. Außerdem sind Ja/Nein-Fragen manchmal zu einfach. Beispiel Forschungsdaten. Hier sollen die Pa­ti­en­t:in­nen zumindest der Weitergabe und Nutzung ihrer Daten für den Zweck widersprechen können. Aber eigentlich ist das keine einfache Ja/Nein-Frage. Denn vielleicht gibt es ja Forschung, für die ich meine Daten gerne hergeben will – und für eine andere wieder nicht.

Setzt das voraus, dass sich die Nut­ze­r:in­nen intensiv damit beschäftigen müssen? Das lässt sich vielleicht nicht von allen verlangen.

Ich glaube, wir Menschen haben alle sehr unterschiedliche Erwartungen an das Gesundheitssystem. Das hängt damit zusammen, welche Erfahrungen wir gemacht haben. Menschen, die aus Minderheiten kommen, schon Diskriminierungserfahrungen gemacht haben oder einfach schlechte Erfahrungen mit Ak­teu­r:in­nen des Gesundheitssystems, die wollen vielleicht stärker drauf schauen, wem sie im Einzelnen vertrauen. Vielleicht der Hausärztin, ja, aber nicht gleich dem ganzen Gesundheitssystem. Und nach aktueller Planung wird vorausgesetzt, dass alle Menschen ein gleichermaßen hohes Maß an Vertrauen in das System haben. Das finde ich eine gewagte Annahme.

Wie lässt sich den verschiedenen Vertrauensbasen gerecht werden?

Zunächst mal kann die Politik keine Entscheidung für alle Menschen treffen. Das müssen die schon selbst machen. Und dafür könnte man sie fragen. Zum Beispiel mit einer offenen Abfrage dazu, welche Daten genau sie in welchem Maße an wen weitergeben wollen oder eben nicht. Oder wer das für sie entscheiden soll. Damit wäre dann auch gleich ein gutes Maß an Transparenz und Aufklärung verbunden. Und bei den Pa­ti­en­t:in­nen wäre das Bewusstsein dafür geschärft, dass sie sich mit dem Thema beschäftigen sollten.

Wer sollte diese Frage letztlich stellen?

Ich würde mir da eine unabhängige Stelle wünschen, zum Beispiel Organisationen für Patientenrechte. Die müssten natürlich die Mittel dafür bekommen.

Wer profitiert denn vom digitalen Gesundheitssystem?

So wie es aktuell ausgestaltet ist, sind die größten Profiteure die wissenschaftlichen und industriellen Forschungsinstitutionen.

Was ist mit den Krankenkassen? Die hoffen doch auf Kosteneinsparungen.

Da zweifle ich, ob das so eintritt. Klar, sie werden auf der einen Seite Kosten sparen, wenn beispielsweise Doppeluntersuchungen vermieden werden. Aber üblicherweise senkt Digitalisierung keine Kosten, sondern sie eröffnet neue Geschäftsfelder, die wiederum Kosten verursachen. Etwa Diagnoseverfahren, die künstliche Intelligenz einbinden. Da findet man dann neue Anwendungsfelder, braucht dafür weitere Daten und muss diese natürlich auch verarbeiten, womit weitere Kosten entstehen.

Welche Risiken sehen Sie?

Da gibt es viele: Cyberangriffe oder andere unautorisierte Datenabflüsse. Dann gibt es die Möglichkeit der Depseudonymisierung. Für die Forschung werden zwar pseudonymisierte Daten verwendet. Bei Gesundheitsdaten lassen sich Menschen aber schon mit sehr wenigen Informationen wieder identifizieren – und mit den gewonnenen Informationen beispielsweise erpressen. Auch die Erpressung von Arztpraxen und Krankenhäusern ist möglich, entsprechende Ransomwareangriffe sehen wir ja jetzt schon.

Fans von Di­gi­ta­li­sie­rung­ verweisen gerne auf andere Länder wie Estland oder Finnland. Was können wir von dort lernen?

Was schiefgelaufen ist, Beispiel Finnland. Da stellte ein Angreifer die Daten von Pa­ti­en­t:in­nen eines Psychotherapiezentrums ins Internet. Das grundsätzlich dezentrale System zur Vernetzung in Estland entstand aus den schlechten Erfahrungen mit großen zentralen Datenbanken in den 90ern. Seitdem wird dort gut und für die Pa­ti­en­t:in­nen erkennbar dokumentiert, wer auf die Daten zugreift. Da lässt sich Missbrauch zumindest erkennen.

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