1. Mai und Gewerkschaften: Neuer Frühling

Beschäftigte in Europa wehren sich gegen niedrige Löhne und steigende Lebenshaltungskosten. Aber für die Gewerkschaften bleibt noch viel zu tun.

Eine rote Nelke in der Brusttasche einer Jeansjacke

Traditionsbewusst mit roter Nelke zur Maikundgebung Foto: Sebastian Kahnert/dpa/picture alliance

Der 1. Mai ist für uns ein Tag zum Feiern. Aber wir erheben auch Einspruch. Am Tag der Arbeit feiern wir die Erfolge der Gewerkschaftsbewegung. Unsere erfolgreiche Kampagne für den Acht-Stunden-Tag stand am Beginn des internationalen Tags der Arbeiterbewegung. Und wir bleiben der Tradition der Gründer unserer Bewegung treu, wenn wir weiter konkrete Verbesserungen der Bedingungen für arbeitende Menschen fordern.

Kurz vor dem 1. Mai 1913 schrieb Rosa Luxemburg in einem Artikel, dass „das Gespenst der Teuerung (…) ein flammendes Zeugnis für die lebendige Wahrheit und die Macht der Ideen der Maifeier“ sei. Deshalb hat die europäische Gewerkschaftsbewegung in diesem Jahr erst recht einen Anlass, auf die Straße zu gehen. Alarmierend steigende Lebenshaltungskosten werden von Unternehmen verursacht, die auf zynische Weise die Preise und ihre Profite immens steigern und dies auf Versorgungsprobleme schieben, die durch die Pandemie und den Krieg in der Ukraine entstanden seien. Gleichzeitig müssen Beschäftigte den größten Reallohnverlust seit Beginn des Jahrhunderts hinnehmen.

Nichtsdestotrotz wurde nur in einer Handvoll europäischer Länder eine Übergewinnsteuer auf solche zusätzlichen Profite eingeführt. Ich nenne diese Teuerung ja lieber „Gierflation“. Aber viele führende Politiker sind abermals entschlossen, die breite Bevölkerung für eine weitere Krise bezahlen zu lassen, an der sie keinerlei Schuld tragen. Austerität 2.0 kommt auf uns zu: Politiker fordern Lohnzurückhaltung, gleichzeitig schießen die Zinsen in die Höhe, Macron setzt in Frankreich auf undemokratische Weise eine Rentenreform durch, und in Dänemark wird ein Feiertag gestrichen.

Aber wir sehen heute in Europa auch, dass die Menschen sich wehren. Ein Dutzend Mal haben die Beschäftigten in ganz Frankreich gestreikt. Großbritannien erlebte 2022 die ausgedehntesten Arbeitskämpfe seit den 1980er Jahren, und in Deutschland kam es Ende März zum „Super-Streiktag“. Krankenpflegerinnen in Lettland, Arbeiter in tschechischen Reifenfabriken und Transportarbeiter in den Niederlanden haben sich in den vergangenen Monaten erfolgreich eine bessere Bezahlung erstritten.

Gewerkschaften wehren sich auch erfolgreich gegen Taktiken, die Organisierung in weiteren Betrieben zu verhindern. Beschäftigte bei Amazon in Deutschland haben immer wieder gegen die Arbeitsbedingungen dort gestreikt, in Großbritannien in diesem Jahr erstmals. Überall in Europa organisieren sich die Beschäftigten und erringen Erfolge. Wir können an diesem 1. Mai stolz sein. Die Herausforderung ist jetzt, aus diesem Frühling der Arbeiterbewegung dauerhafte Verbesserungen zu erstreiten.Deshalb wird eine Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung beim Kongress des Europäischen Gewerkschaftsbunds in diesem Monat oberste Priorität haben. 1.000 Delegierte und Teilnehmer, die mehr als 45 Mil­lio­nen Beschäftigte repräsentieren, werden nach Berlin kommen und einen Aktionsplan für die kommenden vier Jahre beraten.

In zwei Dritteln aller EU-Mitgliedstaaten liegt der Mindestlohn unter der Armutsgrenze

Noch immer profitieren zu wenige Beschäftigte von den Vorteilen gewerkschaftlicher Organisierung und tariflich abgesicherter Arbeitsverhältnisse. Sie erhalten in der Regel eine höhere Entlohnung als in Betrieben, in denen die Arbeitgeber allein die Löhne festlegen. In Deutschland sind 52 Prozent der Beschäftigten über Tarifverträge abgesichert, aber in der Hälfte der EU-Mitgliedstaaten liegt diese Quote unter 50 Prozent. Der Europäische Gewerkschaftsbund hat sich bereits erfolgreich für eine EU-Richtlinie zu angemessenen Mindestlöhnen eingesetzt.

In zwei Dritteln aller EU-Mitgliedstaaten liegt der Mindestlohn unter der Schwelle, an der den Beschäftigten das Abrutschen in die Armut droht. Deutschland gehörte auch dazu, bis der Mindestlohn auf 12 Euro erhöht wurde – ein Beispiel, dem andere EU-Staaten folgen sollen.

Vor allem verlangt die EU-Richtlinie, dass Regierungen mit Gewerkschaften zusammenarbeiten und über gesetzliche Regelungen den Anteil tarifgebundener Jobs erhöhen. Alle EU-Mitglieder müssen sich für die Tarifbindung einsetzen und gewerkschaftsfeindliche Bestrebungen bekämpfen. In Staaten mit weniger als 80 Prozent Tarifbindung muss ein Aktionsplan beschlossen werden, der dies ändert. Wir Gewerkschaften müssen dafür sorgen, dass dieser bedeutende Richtungswandel der EU in nationales Recht umgesetzt wird. Immerhin galt noch vor zehn Jahren in Brüssel das Dogma, dass Tarifverträge dem Wirtschaftswachstum schadeten.

Vorbild USA

Aber das ist nur ein Anfang. Die EU liegt in der Arbeitsmarktpolitik hinter den USA zurück. Die Biden-Regierung fördert per „Inflation Reduction Act“ nur Unternehmen, die gewerkschaftlich vereinbarte Löhne bezahlen, sich am sozialökologischen Umbau beteiligen und Gewinne reinvestieren, statt sie in die Taschen der Eigentümer fließen zu lassen. Es ist zu begrüßen, dass der Green Deal der EU ähnlich mit Investitionen umgehen will.

Aber auch Arbeitnehmerrechte und soziale Prinzipien müssen festgeschrieben werden. Wir können nicht länger hinnehmen, dass große Summen öffentlicher Gelder an Unternehmen gehen, die rein eigennützig handeln, ihre Beschäftigten zu schlecht entlohnen und sich darauf verlassen, dass die Sozialsysteme für den Ausgleich sorgen: Unternehmen wie Amazon etwa, die von 2019 bis 2021 öffentliche Aufträge in Höhe von 1,3 Milliarden Euro erhalten haben. Deshalb wird eine der Forderungen im Berliner Manifest des Europäischen Gewerkschaftsbunds sein, dass keine öffentlichen Gelder mehr an gewerkschaftsfeind­liche, Steuern vermeidende und die Umwelt zerstörende Unternehmen fließen dürfen. Auch dafür werden Gewerkschaftsmitglieder in Europa am 1. Mai auf die Straße gehen.

Aus dem Englischen von Stefan Schaaf

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ist seit Dezember 2022 Generalsekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbunds (EGB) mit Sitz in Brüssel. Sie stammt aus Irland und arbeitet seit 2015 für den EGB.

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