Christopher Street Day auf dem Land: Es geht um weniger Angst

In mehr und in kleineren Städten findet 2023 ein Christopher Street Day statt. Weil sich etwas geändert hat oder weil sich mehr ändern muss?

Zwei Personen formen mit ihren Händen zusammen ein Herz

Die Organisatoren Falko Jentsch (links) und Michell Wenzel vor dem Pride Hub Foto: Henning Kober

MAGDEBURG/SCHÖNEBECK taz | Es geht um Angst. Bei sich selbst und noch mehr bei den anderen. An der Schule ist Michell Wenzel der Erste, der sich als schwul outet. „Für meine Freunde war es kein Problem, für andere schon.“

Schönebeck ist eine Kleinstadt an der Elbe, 20 Minuten südlich von Magdeburg, etwas über 30.000 Einwohner, seit der Wende sind es ein Drittel weniger geworden. Der 22-jährige Rettungssanitäter Wenzel hat seiner Heimatstadt ein Geschenk gemacht und einen eigenen Christopher Street Day organisiert. Dieses Jahr ist es der erste von gut 120, die bis zum Herbst im ganzen Land stattfinden. Am 29. April ist es so weit, zum dritten Mal.

Ab zwölf Uhr mittags beginnt das Fest auf dem Salzblumenplatz, wo früher einmal Salz auf die Elbe verladen wurde. Eine Stunde später formiert sich der De­mons­tra­tions­zug, vorneweg ein Cabrio mit Dragqueens, die Schwestern der Perpetuellen Indulgenz, weiter hinten die Freiwillige Feuerwehr aus dem Ort, dazwischen bis zu 1.000 Lesben, Schwule, Transsexuelle, queere Freunde aus Schönebeck, aus Sachsen-Anhalt und von weiter her.

Noch aber sitzen wir in Magdeburg in einem ehemaligen Ladenlokal in der Hermann-Beims-Siedlung, einer denkmalgeschützten Wohnanlage aus der Zeit der Neuen Sachlichkeit, 10 Minuten östlich vom Hauptbahnhof. Pride Hub nennen sie den Raum. „Es war an der Zeit“, sagt Falko Jentsch (38), ehrenamtlicher Vorstand des Vereins CSD Magdeburg e. V., und meint das, was auf den vor uns auf dem Tisch liegenden Flyern steht: die Streckung in den ländlichen Raum.

„Mehr Sichtbarkeit“

Abgebildet ist eine an einen Ninja-Stern erinnernde Silhouette von Sachsen-Anhalt in den Farben des Regenbogens, darunter stehen die Termine. Nach Schönebeck findet in diesem Jahr auch in Dessau am 20. Mai ein Christopher Street Day statt, dann am 3. Juni zum zweiten Mal in Salzwedel, am 24. Juni zum ersten Mal in Wernigerode im Harz, am 19. August in Magdeburg, am 9. September in Halle und am 30. September zum dritten Mal in Stendal. „Es geht um mehr Sichtbarkeit und um einen Safe Space“, sagt Wenzel.

Lange war es so gewesen: In Schönebeck, Altshausen oder Aurich galt es irgendwie zu überleben, möglichst wenig beschadet. Dann alsbald Flucht in die Großstadt, wer will schon unglücklich werden? Berlin-Schöneberg statt Schönebeck, nur dort schien individuelles Glück möglich, wenn man wusste oder ahnte, schwul, lesbisch oder noch ganz anders zu sein. Entsprechend fanden die ersten größeren Demonstrationen für gleiche Rechte 1979 in Berlin und in Köln statt. Dort sind auch in diesem Jahr die größten Veranstaltungen mit über 1 Million Menschen. Ein Teil demonstriert, ein Teil schaut, alle tanzen, es wird geknutscht und auch gevögelt. Man muss Lärm ertragen können, manchen Betrunkenen und eine fast endlos scheinende Reihe schwerer Sponsoren-Trucks, deren Auftritte an die Spätphase der Love Parade erinnern.

Nach wie vor ein Tabu

Die Masse ist aber auch ein warmer Mantel, wer da ist, ist einverstanden, und das sind viele. Anders in der Kleinstadt. Wer hier dabei ist, outet sich vor seinen Nachbarn, und das ist noch immer nicht leicht. Weil Sexualität nach wie vor ein Tabu ist? „Es sind bisher zum Großteil schon selbst Betroffene, die kommen“, sagt Wenzel, „einfach so vorbeischauen, da sind die meisten noch zurückhaltend.“ Erst zum dritten Mal, die Dinge müssen sich entwickeln. In Magdeburg hatte der CSD einst in einem Hinterhof begonnen.

Neu dabei als Städte mit CSD sind in diesem Jahr unter anderem auch Warendorf (20. Mai), Rosenheim (3. Juni), Reutlingen (10. Juni) und Eisenach (16. September). Schönebeck steht dabei für einen Trend zu mehr kleinen Städten. Auch in Limburg, in Zittau, in Eschborn, in Schwäbisch Hall, in Torgau, in Schwandorf, in Wittenberge, in Olpe, in Stollberg, in Rendsburg kommt die heterosexuelle Mehrheit der Bevölkerung schwieriger umhin, sich mit der Realität auseinandersetzen. „In vielen dieser Städten ist der CSD eine der größten Veranstaltungen, Ordnungsamt, Polizei, Feuerwehr müssen sich auf einmal mit diesem Thema beschäftigen“, sagt Jentsch. Wandel durch Annäherung.

Städter drängen aufs Land

Gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land, das klang lange nach einer Schallplatte aus dem Wahlkampf der CSU. Aber nicht mehr seit der Pandemie. Städter drängen aufs Land. Und kein guter Bürgermeister sollte es sich mehr leisten, seine homosexuellen Bürger nicht mitzudenken. Allein schon, weil die rechtliche Gleichstellung weitgehend erfolgt ist: Es darf geheiratet werden, und das nicht mehr auf der KFZ-Zulassungsstelle. Und doch ist schwuler Stolz in der Provinz noch immer Pionierarbeit. Für jedes Plakat, das im ersten Jahr an Schönebecker Straßenlaternen aufgehängt wurde, nahm die Stadt eine ordentliche Gebühr, nur dauerte es nicht lange, bis die meisten wieder heruntergerissen waren.

Aber Idioten werden die Entwicklung nicht mehr aufhalten. In Münsingen auf der Schwäbischen Alb flattert der Regenbogen, weil Rewe ihn vor seinem Geschäft aufgezogen hat. In Neubrandenburg weht die Regenbogenfahne am Mast vor dem Bahnhof, in Schönebeck vor dem Baumarkt Toom. Morgen wird sie für den Tag auch vor dem Rathaus gehisst. Dass Bürgermeister Bert Knoblauch (CDU) auf dem CSD in seiner Stadt vorbeischauen könnte, scheint noch schwer vorstellbar, aber vielleicht gelingt ihm ja eine Überraschung?

Noch immer geht es um Angst

Im Auto auf dem Weg nach Schönebeck erzählt Michell Wenzel noch einmal von seiner Schulzeit. Homophobe Sprüche der Mitschüler waren sein Alltag. „Ich stand da fast jeden Tag auf der Liste.“ Eigentlich ab der fünften Klasse. „Man hatte es auch gesehen, dass ich anders war“, sagt er, und verstecken wollte er sich nicht, er ging lieber auf den CSD in Magdeburg.

Noch immer geht es um Angst. Anders zu sein ist nicht leicht in einem Land, in dem die Geschichte der Gewalt so allgegenwärtig ist. In Schönebeck hat die Synagoge nicht mal gebrannt. In der Republikstraße steht noch heute das Gebäude mit der maurischen Fassade, ein kleinerer Nachbau der Großen Synagoge in Berlin. Sie wurde in der Pogromnacht gestürmt und entweiht, später enteignet, und das Gebäude wurde zum Materiallager für das Flugzeugwerk von Junkers. Ein Menschenlager gab es auch, das KZ Julius.

Juden, Schwule, Lesben, Sinti und Roma, alle vermeintlich anderen, die doch immer schon Teil dieses Landes waren, wurden verfolgt und ermordet. Schönebeck ist eine ganz normale deutsche Stadt, die im Krieg nicht mal bombardiert wurde. Den Kurpark vom Stadtteil Bad Salzelmen hätte sich Thomas Mann nicht schöner ausdenken können. Allerdings wurden hier bereits in der Frühen Neuzeit auffällig viele Frauen als Hexen verurteilt und hingerichtet.

Lange Gewaltgeschichte

Die Geschichte der Gewalt ist lang. Michell Wenzel mag seine Heimat dennoch. Eigentlich wollte er schon mal nach Berlin ziehen, aber dann kam die Pandemie, und er blieb. Morgen wird er ab 8 Uhr früh auf dem Salzblumenplatz sein und aufbauen. Und am Sonntag auch wieder abbauen. Besenrein, so erbittet es sich das Ordnungsamt.

Jetzt bricht ein bisschen die Sonne durch die grauen Wolken und beleuchtet die wilden Strömungen in der breit geschwollenen Elbe, von der Seite kommt ein frischer Wind. Es wäre doch schade, nur in den Städten zu leben. Die Geschichte der Gewalt wird immer Teil dieses Landes sein, fortsetzen aber muss sie sich nicht.

Was ins Bewusstsein steigt, muss nicht als Schicksal wiederkehren. Es geht um weniger Angst.

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