Der Hausbesuch: Geschichte am Küchentisch

In Marie Rolshovens Wohnung lebten einst Juden und Jüdinnen. Um an diese zu erinnern, öffnet sie jedes Jahr Anfang Mai ihre Wohnung für Fremde.

Marie Rolshoven sitzt an einem großen Tisch in ihrem Wohnzimmer

In Wohnungen an frühere jüdische Bewohner erinnern – Marie Rolshovens brachte das nach Berlin Foto: Miriam Klingl

Wie Berlin und die Geschichte der Stadt in den Lebenslauf von Leuten hineinspielen kann, wie Neugier und Weltzugewandtheit wirken, zeigt sich am Leben von Marie Rolshoven gut.

Draußen: Es regnet in Strömen, aber die wilden Vorgärten vor den klassizistischen Berliner Altbauten, die mit kunstvoll geschmiedeten Zäunen umgeben sind, manche angeschlagen oder rostig, fallen selbst unterm Schirm in den Blick. Es mutet ein wenig à la parisienne an. Rolshoven wohnt in Schöneberg, einem, ja also, schönen Stadtteil von Berlin.

Drinnen: Mit dem historischen Aufzug, der mit einer Doppeltür und eisernem Gittern verschlossen wird und mit Ruck anfährt, geht es in den vierten Stock des Vorderhauses. Marie Rolshoven wartet an der Tür und führt ins Berliner Zimmer. Zur Wohnküche umgebaut ist der riesige Raum, der nur ein Fenster hat, das Zentrum der Wohnung. Der lange Tisch in der Mitte ist ein Statement für Gemeinschaft, für Gastfreundschaft. Zu jedem Ding, das im Raum ist, gibt es eine Geschichte. Das Bild mit der einsamen Hütte etwa, das die Mutter Jani Pietsch in den USA malte. Oder das alte Sofa – ein Geschenk der Mutter des Jugendfreundes. Auch ein großes Foto, auf dem Charles Bukowski auf der Straße tanzt, hängt an der Wand. Rolshoven hat es vor langer Zeit gekauft, „weil es so viel Lebensfreude ausstrahlt“.

Blick aus einem großen Altbaufenster auf die gegenüberliegenden Häuser

Marie Rolshoven lebt im Berliner Stadtteil Schöneberg, die Vorgärten hier erinnern an Paris Foto: Miriam Klingl

Die Vormieter: Wer in einem alten Haus lebt, stellt sich mitunter Fragen zu den Leuten, die vorher da wohnten. Welche Vorlieben die hatten? Welche Lieben? Und welche dunklen Geheimnisse das Gemäuer birgt? Rolshoven fand heraus, dass einst wohlhabende Menschen hier wohnten, denen man alles genommen hatte. Dass es eine „Judenwohnung“ war, wie die Nazis sagten. Sieben jüdische Leute, die man enteignet, entrechtet und aus ihren Häusern vertrieben hatte, wurden hier einquartiert. Zusätzlich zm Ehepaar, das bereits in der Wohnung lebte. Bevor dann alle in Vernichtungslager deportiert und ermordet wurden.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Erinnerung: Einmal im Jahr, immer am ersten Maiwochenende, öffnet Marie Rolshoven nun ihre Küche für die Öffentlichkeit, damit am Küchentisch über die NS-Zeit gesprochen werden kann. Auch darüber, was sie für uns heute bedeutet. Und natürlich wird zudem über alles Mögliche geredet. „Es ist mehr wie bei einer privaten Feier“, sagt sie.

Offene Wohnung:Denk mal am Ort“ heißt das Erinnerungsprojekt. In Holland gibt es diese Form des Erinnerns in privaten Wohnungen schon länger. Marie Rolshoven hat es – damals zusammen mit ihrer Mutter Jani Pietsch – nach Deutschland geholt und sorgt seither dafür, dass es läuft. Nicht nur sie selbst, auch andere Menschen öffnen ihre Wohnungen, in denen einst von Nazis Verfolgte lebten, für Gäste. In Berlin, aber auch anderswo.

Die Mutter: Jani Pietsch, die Mutter, war wichtig. Wenn Marie Rolshoven von ihr spricht, liegt Wärme in der Stimme. „Die Art, wie meine Mutter Menschen anschaute – da war sofort Vertrauen.“ Jani Pietsch war Künstlerin. Aber vor allem war sie Menschenfreundin. Rolshoven zeigt Fotos von der Mutter. „Man konnte unter ihren Flügeln, unter ihren Augen wachsen.“

Die Berlinerin: Rolshoven kam 1972 in Brüssel zur Welt. Die Eltern, die in Freiburg studiert hatten, wollten reisen. Aber nicht, um irgendwo hinzufahren und sich das Fremde einzuverleiben, sondern um irgendwo hinzufahren und das Leben dort zu verstehen. Die Mutter arbeitete in Brüssel als Übersetzerin, der Vater, Jurist, hospitierte in einer Kanzlei. Als Marie Rolshoven zwei Jahre alt war, zogen die Eltern nach Berlin; Rolshoven nennt sich Berlinerin.

Handwerk: Die Eltern waren Ermöglicher. Sie unterstützten, was immer die Tochter tat. Nach dem Abitur schwebte ihr Bühnenbildnerin vor. Sie machte dann aber eine Tischlerlehre. Es waren die 90er Jahre, Frauen waren in Männerberufen nicht mehr so abwegig wie noch ein Jahrzehnt zuvor. Trotzdem, der alte Ton war da: „Fünf Minuten vor der Zeit ist des Soldaten Pünktlichkeit“ – so die Worte des Meisters. „Wenn du in so ’ner Tischlerklasse bist, die meisten Jungs, da muss dich der Ehrgeiz packen.“ Sie jedenfalls wurde mit ihrem Gesellenstück Jahrgangsbeste – einer Kommode, die in ihrem Schlafzimmer steht und die von den strengen Formen der Möbel der Shaker, einer Glaubensgemeinschaft in den USA, inspiriert ist. Zwei Jahre arbeitete sie noch in einer Tischlerei. „Dann wollte ich weg.“

Fernweh: Sie hatte von einer Stiftung erfahren, die Leuten im Handwerk Auslandserfahrung ermöglichte. Mit dieser finanziellen Unterstützung arbeitete sie ein Jahr lang an einem Marionettentheater in Barcelona. „Die waren froh über die genaue deutsche Handwerkerin.“ Dass sie dann aber doch zurück nach Berlin ging, daran war die Liebe Schuld. Und die Kinder, die bald kamen; sie habe immer welche gewollt. Während die Kinder klein waren, studierte sie Theater- und Filmwissenschaften. „Studieren geht mit Kindern ja ganz gut. Das liegt bei mir allerdings auch daran, dass die Großeltern mithalfen.“

Nachbarn: Nach dem Studium fand sie eine Arbeit beim Erinnerungsprojekt „Wir waren Nachbarn.“ Systematisch werden dort die Biografien von Juden und Jüdinnen rekonstruiert, die ehemals in Schöneberg lebten, vertrieben oder ermordet wurden. Eine Dauerausstellung im Rathaus Schöneberg erinnert an sie. Hier kann Rolshoven all ihre Fähigkeiten einbringen, nicht nur die handwerklichen, auch die Fotografie, die Dokumentationsarbeit. Sie macht Filme über die Menschen, hat auch eine Filmproduktionsfirma. Das Projekt „Denk mal am Ort“ ist eine Erweiterung des Erinnerns. „Man muss Wege finden, die Geschichte lebendig zu erhalten, weil sie so ungeheuerlich war.“

An der Wand hängen Bilder und Fotos, Skulpturen stehen auf einem Sideboard

Zu jedem Ding im Raum, zu jedem Bild gibt es eine Geschichte Foto: Miriam Klingl

Wunder: Nicht nur ihre Mutter, auch ihr Lebenspartner unterstützte sie bei ihrem Engagement. Bis er starb. Mit 42. An plötzlichem Herztod. Rolshoven sagt, sie sei eine optimistische Frau. „Ich denke immer, dass doch alles gut wird.“ Das gebe ihr Kraft. Sie dachte es auch, als ihr Vater mit 56 Jahren an Krebs starb. „Ich dachte, vielleicht gibt es doch Wunder.“ Und sie dachte es, als ihre Mutter an Krebs erkrankte und mit 73 Jahren verstarb. „Menschen gehen. Erinnerung bleibt.“

Gedenken: Gefragt, ob sie aus der persönlichen Erinnerungserfahrung zur Erinnerungsarbeit kam, erzählt sie von einem jüdischen Freund ihres Großvaters, den dieser im Krieg versteckt hatte. Der Freund wanderte nach 1945 aus nach New York, weil er auch im Nachkriegsdeutschland nicht willkommen war. Wenn er aber zu Besuch nach Berlin kam, sei es ein Fest für sie gewesen, als Kind. Marie Rolshoven erzählt allerdings auch, dass sie sich bei ihren anderen Großeltern nicht so sicher ist, auf welcher Seite sie in der NS-Zeit standen. „Da war so ein Rumgedruckse.“

Geschichten und Geschichte: Wenn sie ihre Küche öffnet, verweben sich eigene und fremde Erfahrungen. Von unzähligen Begegnungen kann Rolshoven erzählen. Wie Nachkommen von Verfolgten, die meisten leben nicht in Deutschland, herausfanden, wo ihre verlorenen Vorfahren wohnten. Es gibt keine Friedhöfe, auf denen sie liegen. Aber Wohnungen, wo sie gelebt haben, können Erinnerungsorte für die Nachkommen sein. „Wir stellen Verbindungen her. Das versöhnt.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.