Voll
auf
die
Rübe

Mal meint man, ein zerknautschtes Gesicht zu erkennen, mal eine Skulptur: Der Fotograf Ingar Krauss porträtiert Zuckerrüben. Und erinnert mit seinen Bildern auch an die koloniale Geschichte des Zuckers

Von Brigitte Werneburg
(Text)und Ingar Krauss (Fotos)

Auf den ersten Blick könnte das Plakat eine vertrackte Hommage an Bernd und Hilla Becher sein, die mit ihren Schwarzweiß-Fotografien von Industrieanlagen international bekannt wurden. Diesen Eindruck triggern sowohl die standardisierte Aufnahmetechnik als auch das Motiv, das ähnlich rätselhaft ist: sechs mal sechs gleichförmig plumpe Zuckerrüben, dabei jede von individueller Gestalt. Ingar Krauss hat mit ihnen freilich nicht nur eine durch die Bechers geprägte Typologie erstellt. Er hat die Zuckerrüben nach allen Regeln der Kunst porträtiert.

Dazu hat der 1965 in Ost-Berlin geborene Fotograf, der inzwischen im Oderbruch lebt, die geerntete Frucht in eine Art miniaturisiertes Tageslichtatelier gesetzt, einen mit Stoff ausgekleideten Kasten. Dank des natürlichen Lichts, das Krauss von links oben in den Kasten und auf die Pflanze lenkte, hellt sich das Dunkel des Hintergrunds am Boden auf. Vor den Guckkasten stellte er eine alte, mit Schwarzweiß-Negativfilm bestückte Mittelformatkamera auf ein Stativ. Die belichteten Filme entwickelte er wie gewohnt im eigenen Labor, in dem er auch die Abzüge herstellte.

Dem aufwändigen Aufnahmeverfahren entsprechend haben die 36 Zuckerrüben, die Krauss für die Publikation bei Hartmann Books aussuchte und von denen die taz zehn zeigt, einen denkbar würdevollen Auftritt. Und individuellen Charakter. An ihrer im Foto matt schimmernden, von Rissen und Abschürfungen gezeichneten Haut haftet noch Erde, vor allem in den Schrunden. Manchmal meint man ein zerknautschtes Gesicht zu erkennen. Die Rüben wurden quasi ihres Haarschmucks beraubt, also der überirdisch wachsenden Blätter, die man beim Ernten abgeschlagen hat. Eine andere Rübe erinnert an ein Herz mit seinen Arterien, in wieder anderen erkennt man eine modernistisch organische Skulptur.

Die Rübenbilder sind Teil eines Fotoprojekts mit Pflanzenporträts, die Ingar Krauss seit Jahren in inszenierten Zyklen vorlegt. Nach Pilzen, Lauch, Kürbis, Gurke oder Sellerie hat er zuletzt Agrarpflanzen in den Fokus genommen wie etwa Mais – und jetzt eben Zuckerrüben. „Das Abbild des Agrarischen“, sagt Ingar Krauss in einem Interview mit der Bauernzeitung, „kommt in der zeitgenössischen Kunst generell etwas zu kurz, dabei ist das in unseren Breiten so landschaftsprägend wie nichts sonst.“

Das Agrarische ist im Osten Deutschlands, wo Krauss lebt, freilich eine Industrieform. Insofern ist die Assoziation der Zuckerrüben-Typologie mit den Industrieanlagen der Bechers sogar stimmig. Im Oderbruch, wo Ingar Krauss seine Exemplare in der angehäuften Ernte fand, sind die früheren Zuckerfabriken – etwa in Voßberg und Thöringswerder – längst in Energieparks umfunktioniert. Die industrielle Zuckerproduktion ist Geschichte, heute sind die Zuckerrüben für Biogasanlagen und die Produktion von Bioethanol bestimmt.

Nun ist Zucker bekanntlich ein Teufelszeug. Im 18. und 19. Jahrhundert beraubte er Afrika seiner Bevölkerung, die auf den Zuckerrohrplantagen in der Karibik Sklavenarbeit leistete. Das war für die Kolonialmächte ein mehr als einträgliches Geschäft, das auch die europäische Industrialisierung mitfinanzierte.

Mit der napoleonischen Kontinentalsperre war damit erst mal Schluss. Der französische Kaiser verfügte 1806 eine Wirtschaftsblockade gegen Großbritannien und seine Kolonien. Dass kein Rohrzucker mehr nach Europa kam, war die Chance der Zuckerrübe. Der Chemiker Franz Carl Achard hatte 1796 in Kaulsdorf bei Berlin das weltweit erste Verfahren entwickelt, um Zucker aus Rüben zu gewinnen. Letztlich setzte sich der Rübenzucker aber erst um 1850 durch, etwa zur gleichen Zeit, als die institutionell legitimierte Sklaverei in den Industrienationen an ihr Ende kam. Tatsächlich soll der Kampf gegen die Sklaverei Achards Motiv gewesen sein, Zucker aus Rüben herzustellen.

Bis heute bleibt der Zucker – längst überwiegend wieder aus Zuckerrohr gewonnen – Teufelszeug. Er ist der Suchtstoff schlechthin, der Milliarden von Menschen krank macht. Auch seine Verwendung zur Energiegewinnung ist, im Weltmaßstab gesehen, nicht hilfreich. Dank der Ethanolherstellung ist Brasilien heute der größte Produzent von Zuckerrohr, was Landraub, Umweltschäden, neuerliche Plantagenwirtschaft und versteckte Sklavenarbeit zur Folge hat.

Unversehens eröffnet Ingar Krauss’ Typologie der Rübe die Sicht auf komplexe sozioökonomische Zusammenhänge und gibt der Auseinandersetzung mit der kolonialen Geschichte Europas und deren postkolonialer Fortsetzung wirklich – Zucker.

Ingar Krauss, Zuckerrüben. Hartmann Books, 2023. 36 Karten mit Tritone-Abbildungen auf Chromokarton in geprägter Portfolioschachtel mit Faltplakat 64,5 × 90 cm und Textbeileger. Text von Eugen Blume. 45 Euro