Projekt zur Temporeduzierung: Kunst am Straßenrand hilft

Künstlerische Installationen neben der Fahrbahn bewegen Autofahrer*innen, das Tempo zu drosseln. Das zeigt ein Pilotprojekt in Niedersachsen.

Michael Dörner, Professor an der Kunsthochschule Ottersberg, und Kira Keune, Studentin, stehen an der Bundesstraße 209 neben einem Kunstobjekt.

Runter vom Gas: Professor Michael Dörner und Künstlerin Kira Keune zeigen Brems-Kunst an der B209 Foto: dpa / Philipp Schulze

OSNABRÜCK taz | Kunst will gesehen werden. Also zeigt sie sich da, wo viele Menschen an ihr vorbeikommen. Besonders gern von ihr bevölkert: Straßenränder. Man fährt Rad oder Auto, und da ist sie plötzlich: eine Skulptur, ein Grafitto, ein Lichtobjekt. Alltag, nicht nur in Metropolen.

Aber Kunst, die auf Geschwindigkeitsverringerung zielt, ist selten. Die kleinen niedersächsischen Gemeinden Ottersberg (Kreis Verden) und Amelinghausen (Kreis Lüneburg) sind also etwas Besonderes: Ihre Hauptdurchgangsstraßen sind zu Galerien geworden. Deren Kunst ist ein Mittel angewandter Wissenschaft, ein Feldversuch des interdisziplinären Grundlagenforschungs-Projekts „FairVerkehr. Entschleunigung des innerörtlichen Straßenverkehrs durch künstlerische Installationen“.

„FairVerkehr“ ist eine Kooperation des Instituts für Experimentelle Wirtschaftspsychologie der Leuphana Universität Lüneburg, des Instituts für Verkehrsplanung und Logistik der Technischen Universität Hamburg sowie von Dozenten und Studierenden der Ottersberger Hochschule für Künste im Sozialen. Beim aktuellen Projekt reicht die Brems-Kunst in Ottersberg von Juran Landts „Texere“, einer Textschilderfolge, deren Botschaften Radfahrer und Fußgänger verändern können, bis zu „Bunte Straße“ von Jingrui Zhang, einer Bushaltestelle mit angemalten Sitzen, Farbstreifen auf dem Gehweg und einer Beklebung durch bunte Folien.

In Amelinghausen umfasst die Bandbreite neben Michael Dörners „Airbugs“, dönerhaften Figurativwesen aus Bauschaum und LKW-Planen in Alarm-Orange bis Knallrot, auch „Don’t be afraid“ von Caroline Stöckel, von Passanten verschiebbare Acrylglasscheiben, die, wenn Sonne hindurchscheint, die Straße in Farben tauchen.

Das Ergebnis: Die Kunst bremst spürbar und hat keine negativen Nebenwirkungen

Das Projekt reicht bis ins Jahr 2017 zurück. Den größten Effekt hatte in der Pilotphase Elisabeth Herwigs „Fülle“ am Straßenrand von Ottersberg, ein Pferdeanhänger, aus dem eine rote Masse quoll, Eingeweiden gleich. „Das hat die Autofahrer aber ein bisschen zu sehr abgelenkt“, sagt Professor Rainer Höger, emeritierter Leuphana-Wirtschaftspsychologe und Koordinator von „FairVerkehr“. In der Hauptphase, in Ottersberg ab Herbst 2020 und in Amelinghausen ab Frühjahr 2021, wurden die Eyecatcher dann entspannter.

Der verkehrspolitische Hintergrund des Projekts: Ottersberg und Amelinghausen haben ähnliche Probleme. In Ottersberg ist die Straße schnurgerade, weit einsehbar, was zu hohen Geschwindigkeiten führt. In Amelinghausen führt sie teils abschüssig in den Ort hinein, mit ähnlichen Folgen. Und in beiden Orten ist das Verkehrsaufkommen hoch, stark geprägt von Transitfahrten.

„Wir wollten untersuchen, ob wir die Geschwindigkeit durch Kunst reduzieren können“, sagt Höger. „Durch eine Beeinflussung der Ortsatmosphäre.“ Und dann zieht Höger einen Vergleich: „Nehmen wir einen Weihnachtsmarkt. Auch da gibt es viel zu schauen. Auch da ist die Aufenthaltsqualität hoch. Und weil das so ist, würde keiner auf die Idee kommen, da mit dem Motorrad durchzubrettern.“

Der Aufwand der drei Hochschulen war groß: Die Anwohner wurden zur Partizipation eingeladen, zu Verkehrslärm, Luftqualität, Anmutungsqualität und Aufmerksamkeitsattraktion befragt. Radarmessgeräte und Verkehrskameras wurden installiert, für Vorher-Nachher-Vergleiche. Dazu kamen Blickfelduntersuchungen durch Eye-Tracking. Per Zufallsprinzip ausgewählte Fahrzeuge wurden zudem Verfolgungsfahrten unterzogen, Fahrerverhaltensanalysen mit GPS-Ortung folgten. Dazu kam die Kunst selbst. Vom niedersächsischen Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz gab es für all das 115.000 Euro Fördermittel.

Keine negativen Nebenwirkungen

Das Ergebnis: Die Kunst bremst tatsächlich, spürbar. Und sie hat keine negativen Nebenwirkungen: Sie wird zwar, so der Abschlussbericht, „substanziell mit Aufmerksamkeit belegt“, aber sie ist nicht verkehrsgefährdend.

Ein Problem: Die Geschwindigkeitsreduktion tritt teils erst Richtung Ortsmitte ein, mit Zeitverzug. „Natürlich wäre es besser, wenn das gleich am Ortseingang geschähe“, sagt Höger. „Aber dazu hätten auch Kunstobjekte im Vorfeld der Ortseinfahrt stehen müssen, und das ist verkehrsrechtlich nicht erlaubt.“ Dass sich der Effekt innerorts verstärke, könne auch an der Summe der Kunst-Eindrücke liegen. „Da wirkt dann nicht das einzelne Werk, sondern die Kombination aller.“

Projekt mit Zukunftspotenzial

„FairVerkehr“, im Spätherbst 2022 abgeschlossen, hat Zukunftspotenzial. Gerade im Ländlichen, wo die Verkehrsplanung oft das Auto begünstigt hat und durch das sich plötzlich Schwerlastverkehre pflügen, auf dem Weg zu neuen Gewerbegebieten, muss sich der Straßenraum wandeln – weg von der Rennstrecke, hin zu mehr Anwohner-Lebensqualität.

Der Einsatz von Kunst, gleichzeitig potenziell eine lokale Identitätsstiftung, ist ein Ins­trument. Auch Dialogdisplays zur gefahrenen Geschwindigkeit helfen, neben zusätzlicher Begrünung und verkehrsberuhigenden Baumaßnahmen. „Es ist ein Zusammenwirken“, sagt Höger. Die Reaktion der Bürger war übrigens gemischt. „Einige fanden es notwendig, dass was passiert“, sagt Höger. „Andere konnten mit Kunst nichts anfangen.“

Besonders beliebt sind übrigens die „Parasole“-Objekte von Kira Keune, Sonnenschirme mit Alulamellen, von Pink bis Türkis. „Die sehen einfach nett aus, haben Karibik-Feeling“, sagt Höger. „Die Leute stellen sich Stühle drunter, unterhalten sich.“ Eine Fahrt nach Ottersberg und Amelinghausen lohnt sich also. Eine der Erkenntnisse: Von der Geografie und der Einwohnerzahl her sind beide Orte Provinz. Aber gedanklich können sie mit einer Weltstadt wie London mithalten. Denn die Botschaft ihrer Hauptdurchgangsstraßen erinnert an den Diversifikations-Raum der Exhibition Road in South Kensington: Die Zeit, in der Autos hier das alleinige Sagen hatten, ist vorbei.

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