Debatte um Atomausstieg: Ohne Atomkritik keine Erneuerbaren

Hätten wir zuerst aus der Kohle und dann aus der Atomenergie aussteigen sollen? Warum diese Frage plausibel klingt, aber schon falsch gestellt ist.

Windräder nahe einer grube des Braunkohletagebaus Garzweiler

Die letzten Atomkraftwerke werden abgeschaltet, während in Lüzerath noch Braunkohle gefördert wird Foto: Jochen Tack/imago

Dem Fundamentalkonflikt um die Atomenergie wurde in keinem Land mit so großer Hingabe und Ausdauer gehuldigt wie in der alten Bundesrepublik. Es passt zu den vielen Skurrilitäten dieser Debatte, dass nun, bevor der Vorhang endgültig fällt, noch einmal nachgekartet wird, wobei alle Beteiligten noch einmal ihre jahrzehntelang eingeübten Rollen spielen.

Die CDU, die den Ausstieg im Jahr 2011 unter dem Eindruck der dreifachen Kernschmelze von Fukushima gemeinsam mit der FDP besiegelt hat, diskutiert heute, ob Atomenergie in ihrem neuen Grundsatzprogramm wieder ein Zukunftsversprechen sein soll. Nassforsch meldet sich die frühere Familienministerin Kristina Schröder als Expertin zu Wort. Sie will einen „historischen Irrtum korrigieren und wieder in die Kernenergie einsteigen – was denn sonst?“ Die FDP wittert erneut die Chance, ihren schmalen Abstand zur 5-Prozent-Hürde zu vergrößern, indem sie sich pro Atomenergie positioniert.

Nie war Atomkraft konkurrenzfähig

Es brauchte einen Steinzeit-Imperialisten aus dem Osten, einen von ihm angezettelten verheerenden Krieg in Europa und ein Atomkraftwerk namens Saporischschja unter Dauerartilleriebeschuss, um die Ver­lie­re­r:in­nen des Generationenkonflikts um die Atomenergie noch einmal auf den Plan zu rufen. Wir erleben dieser Tage die öffentliche Verarbeitung einer als traumatisch empfunden Niederlage.

Gerd Rosenkranz ist Experte für erneuerbare Energien. Er arbeitete unter anderem für die taz und den Spiegel und war bei Agora Energiewende für Grundsatzfragen verantwortlich.

Dabei könnten sich die Anhänger der Atomenergie entspannen. Denn nicht ihre Fehler bei der Durchsetzung dieser Technologie waren letztlich ursächlich für deren epochalen Misserfolg, sondern die objektiven Besonderheiten dieser Technologie selbst: Sie ist zu riskant und zu schwerfällig. Nie in den 70 Jahren ihrer Existenz war sie konkurrenzfähig.

Ist die Anti-AKW-Bewegung schuld?

Eher am Rand der Schlussdebatte zetteln einige (darunter die FDP) nun eine Art Historikerstreit über die Rolle der Atomenergie in Deutschland an, mit der die erfolgreiche Anti-AKW-Bewegung nachträglich ins Unrecht gesetzt werden soll. Man stellt die Frage, ob sich die progressiven Kräfte der alten Bundesrepublik zu lange und zu ausschließlich an der Überwindung der Atomkraft abgearbeitet und darüber die Klimakrise vernachlässigt haben. Ist also die Anti-AKW-Bewegung am Ende daran schuld, dass uns nun beim Klimaschutz die Zeit davon läuft?

Diese These ist auf den ersten Blick nicht unplausibel. Denn unbestritten hätte das Kohleland Deutschland viel früher anfangen müssen, sich ernsthaft um den Klimawandel zu kümmern. Ebenso unbestritten ist, dass bei der Stromproduktion aus Atomkraft keine Treibhausgase entstehen. Erst aus der fossilen Verbrennung auszusteigen, um sich dann um die Risiken der Atomenergie zu kümmern, wäre also eine Option gewesen.

Die Anti-AKW-Bewegung war milieuübergreifend wirkmächtig

Auf den zweiten Blick jedoch ist schon die Frage falsch gestellt. Denn die Option Kohleausstieg first, Atomausstieg second war nicht einmal theoretisch im Angebot. Anfang der 1970er Jahre, als sich die Standorte der Atomwirtschaft zu Kristallisationspunkten von zuvor eher unabhängig voneinander agierenden Strömungen der außerparlamentarischen Opposition entwickelten, wussten von der Physik des Treibhauseffekts nur wenige Wissenschaftler:innen. Warum also aus der Kohle aussteigen?

Milieuübergreifend wirkmächtig war hingegen seinerzeit der Widerstand gegen die Atomkraft. Friedensbewegung, Umweltbewegung, Frauenbewegung, Alternativbewegung – sie alle erfuhren im gemeinsamen Widerstand gegen die Hochrisikotechnologie einen über ihr jeweiliges Kernanliegen hinausweisenden Politisierungsschub. Dieser mündete in die Gründung der Grünen Partei.

Die Anti-AKW-Bewegung wurde zum Kitt eines Milieus, ohne das sich späterhin auch der Klimaschutzgedanke nicht zum politischen Mainstream der deutschen Gesellschaft entwickelt hätte. Schon aus dieser Perspektive war – in der Rückschau – die Fixierung auf eine Technologie mit dem traumatischen Hintergrund von Hiroshima und Nagasaki eine ziemlich gute Idee, um die Energiewende-Debatte in Deutschland zu begründen.

Sinn der Übung war der „Sofortausstieg“

Der nächste Punkt in der retrospektiven Betrachtung der Anti-AKW-Bewegung betrifft eine ebenfalls von den handelnden Personen nicht vorgesehene, dafür aber umso handfestere Folgewirkung. Sinn der Übung war eigentlich der „Sofortausstieg“. Im realen Leben erstreckte sich dieser aber fast über ein halbes Jahrhundert.

Die zentrale, wenn auch nicht intendierte Wirkung der Bewegung, die den Sofortausstieg forderte, war nicht die schnelle Abkehr von der Hochrisikotechnologie, sondern eine Fokussierung auf die Begrenzung der Risiken und ihre Ausleuchtung bis in die kleinsten technischen Verästelungen hinein. Die Ausprägung von alternativer Expertise, die es bis im Laufe der Zeit an die Spitze einschlägiger Bundesbehörden und Regierungskommissionen schaffte, hat eine kaum beherrschbare Technologie zwar nicht sicher, aber ohne Frage sicherer gemacht. Als Nebeneffekt wurde sie abschreckend teuer. Dass dieses dicht besiedelte Land bis heute von einem Super-GAU verschont blieb, liegt auch an den unter der Dauerbeobachtung ihrer Kri­ti­ke­r:in­nen vergleichsweise seriös betriebenen Atomanlagen.

Aus der Bewegung entstanden neue Wissenschaftszweige

Kommen wir zum Kern des Vorwurfs eines strategischen Irrtums der deutschen Anti-AKW-Bewegung. Von Anfang an – spätestens jedoch mit der Anerkennung des menschengemachten Klimawandels als eines physikalischen Epochenproblems – stand die AKW-Kritik unter hohem Rechtfertigungsdruck. Wer aussteigt, muss irgendwo anders einsteigen, verlangten die Gegner der Atomkraftgegner schon, als der Bezug zur Klimaaufheizung noch gar nicht hergestellt war – und sie hatten recht damit.

Die Entwicklung erneuerbarer Energietechnologien zu einer Alternative im Energiesystem wurde so in Deutschland früher als anderswo zum Kernauftrag einer atomkritischen Wissenschaftler-Generation. Auch hier von historischem Irrtum keine Spur. Im Gegenteil, das Ergebnis ist einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Innovationsschub, den Nachkriegsdeutschland hervorgebracht hat: Aus kleinen, schlecht bezahlten, aber hoch motivierten Gruppen junger Wis­sen­schaft­le­r:in­nen entwickelten sich neue, ökologisch orientierte Wissenschaftszweige, Institute und Institutionen, die heute hohes Ansehen genießen. Sie haben die Energiegewinnung aus Wind und Sonne weltweit zu den günstigsten Stromerzeugungstechnologien gemacht.

„Aufstand der Amateure“ war ein Auslöser der Transformation

Das aus der Mitte des Deutschen Bundestags formulierte Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) wurde zum Treibsatz des weltweiten Booms dieser Technologien und ungeplant zum erfolgreichsten Entwicklungshilfeprojekt der bundesdeutschen Geschichte.

Ja, es war auch eine teure Veranstaltung, wie die Geg­ne­r:in­nen des Stroms aus Wind und Sonne in der Hochlaufphase nicht müde wurden anzuprangern. Bezahlt wurde sie von deutschen Stromverbraucher:innen, die mit ihren Stromrechnungen die Entwicklungskosten finanzierten. Das Gesetz wurde so oder ähnlich in mehr als 100 Staaten der Erde kopiert. Die von der FAZ im Jahr 1979 unter dem Beifall damaliger Unionsgranden als „Aufstand der Amateure“ denunzierte wissenschaftliche Anti-AKW-Bewegung war ein wesentlicher Auslöser der Transformation, die heute weltweit stattfindet.

Große Teile der Wirtschaft haben die Seite gewechselt

Es sind vor allem fachfremde Politiker:innen, die sich nun für eine gescheiterte Technologie begeistern. Große Teile der Wirtschaft, die über Jahrzehnte fundamentaler Antipode der Anti-Atom-Bewegung war, haben längst die Seite gewechselt. Als „wirtschaftlichen Unsinn“ geißelte etwa Rolf Martin Schmitz, der frühere RWE-Chef, im Jahr 2020 die Idee einer neuen AKW-Generation: „Warum soll man Milliarden Euro in eine Technologie investieren, bei der die Kilowattstunde Strom mindestens 10 Cent kostet, wenn es mit Windkraft schon für 4 Cent geht? Das leuchtet mir nicht ein.“

Ohne die beharrliche Fixierung der frühen außerparlamentarischen Oppositionsbewegung auf den AKW-Widerstand gäbe es die neuen Erneuerbaren als konkurrenzfähige Energietechnologien heute noch nicht. Deshalb ist seltsam, wenn Po­li­ti­ke­r:in­nen aus den Parteien, die diese Entwicklung über Jahrzehnte zu hintertreiben versuchten, nun angebliche strategische Fehler der Anti-AKW-Bewegung beklagen.

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