Eine Frau im Badeanzug steht in einem See, von hinten aufgenommen

Foto: Sophie Kirchner

Wanderung durch Grönland:Am eisigen Ende der Welt

Bevor sie 50 ist, will Geertje Marquardt die größte Insel der Erde durchqueren. Seit anderthalb Jahren trainiert sie dafür. Was will sie finden?

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14.4.2023, 16:14  Uhr

Die Leute starren. Manche bleiben stehen. „Was machen Sie denn da?“ Mit einem Geschirr um die Hüfte und zwei alten Autoreifen im Schlepptau pflügt Geertje Marquardt durch ein Waldstück bei Potsdam. Wer wissen will, was das soll, muss ein Stück mitlaufen. Geertje Marquardt trainiert. Sie meint es sehr ernst, und ohne anzuhalten erzählt sie, warum.

Geertje Marquardt will Grönland durchqueren.

560 Kilometer zu Fuß und auf Skiern durch die zweitgrößte Eiswüste der Welt: Dafür braucht die 47-jährige Künstlerin eine Genehmigung der grönländischen Regierung, sie wird eine Schusswaffe mitführen und auf einem Konto liegen 9.000 Euro – für den Fall, dass ein Hubschrauber sie ausfliegen muss. Eine Grönlanddurchquerung ist kein Outdoorurlaub in Schneelandschaft. Es ist eine Expedition. Etwas, das nur sehr wenige Menschen sich vornehmen und noch weniger schaffen.

Ich kenne Geertje schon länger und begleite sie in den Monaten vor ihrer Abreise. Sie ist beschäftigt mit der Vorbereitung auf das größte Abenteuer ihres Lebens. Und ich mit der Frage: „Warum machst du das, und warum fasziniert mich das so?“ Steckt in diesem Vorhaben etwas, das weit weniger speziell ist als eine Polarexpedition? Etwas, das auch mich und dich betrifft?

Spoiler: Dies wird keine Reportage vom nördlichen Ende der Welt. Es wird eine kleine Geschichte über eine große Sehnsucht.

Geertje, warum willst du Grönland durchqueren?

„Ich bin neugierig, wie sich diese Landschaft anfühlt.“

Grönland. Auf manchen Weltkarten wirkt es seltsam verzerrt, fast so riesig wie Südamerika – Es ist schwer, die runde Erde auf ein flaches Blatt Papier zu bringen. Je näher an den Polen, umso schlimmer. Tatsächlich ist Grönland kleiner als Argentinien und sechs Mal so groß wie Deutschland. Es ist die größte Insel der Welt und nach der Antarktis die zweitgrößte permanent vereiste Fläche.

Wie eine sehr dicke Decke liegt das Inlandeis auf der Insel und lässt nur an den Küsten Platz für die kaum 60.000 Bewohner*innen. 1,7 Millionen Quadratkilometer Eisfläche, rund 2 Kilometer dick, 2,7 Millionen Gigatonnen schwer. Das kann der Mensch nicht fassen. Das vielleicht schon: Falls das Grönlandeis komplett abschmilzt, hebt sich der Meeresspiegel weltweit um 7 Meter. Seit der Jahrtausendwende verliert das Inlandeis immer schneller an Masse.

„Wer Grönland durchquert, kehrt als ein anderer zurück“, sagen die, die das schon gemacht haben. Das waren nicht die Inuit, die hier seit mehr als 700 Jahren an den Küsten leben. Über das Inlandeis sind sie erst gegangen, als die Europäer damit anfingen.

Eine ältere Frau in Funktionskleidung und Mütze schaut schräg nach oben in die Sonne

Künstlerin und Abenteurerin Geertje Marquardt Foto: Foto: Sophie Kirchner

Die ersten waren nur Männer. Männer, die in der Einsamkeit des Eises von Forscherruhm träumten und von Frauen, die sie niemals nach Grönland mitgenommen hätten. Der Norweger Fridtjof Nansen durchquerte Grönland 1888 als erster Mensch überhaupt. Seine kleine Expedition kämpfte mit Temperaturen bis zu minus 46 Grad. Der Däne Johan Peter Koch überwinterte 1912 als Erster auf dem Inlandeis. Und der Deutsche Alfred Wegener, posthum berühmt geworden für seine Theorie der Plattentektonik, starb 1930 bei seiner dritten Grönland-Expedition auf dem Rückweg von der Überwinterungsstation Eismitte, vermutlich an Erschöpfung. 1965 ging mit der Schottin Myrtle Simpson die erste Frau übers Eisschild.

Einmal ganz weit oben auf dem Globus stehen: Das Grönlandeis aus eigener Kraft zu durchqueren ist wie den Mount Everest besteigen – nur weniger glamourös, weniger voll, ohne Basislager und Todeszone. Alles was du brauchst – Unmengen von Essen, Kocher, Benzin, Schneeschaufel, Schlafsack, Zelt, Isomatte, Klamotten – schleppst du auf Schlitten hinter dir her.

Dieser Marsch zehrt so an dir, dass du weit über 4.000 Kilokalorien jeden Tag in dich stopfst und am Ende doch an Gewicht verloren haben wirst. Wenn es sehr kalt ist, und es ist oft sehr kalt auf dem Inlandeis, dann hast du bei der Rast kaum zehn Minuten Zeit, das Zelt aufzubauen oder den fummeligen Kocher zu bedienen, bevor deine Finger selbst mit Handschuhen bedenklich kalt werden.

Rund 30 Menschen meistern die Tour im Jahr – in kommerziellen Expeditionen oder auf eigene Faust, als Ex­trem­tou­ris­t*in oder als Polarforscher*in.

So wie Wilfried Korth, ein Professor für Vermessungskunde aus Potsdam, der auf historischer Route ab 2002 immer wieder Grönland durchquerte, um die Dicke des abschmelzenden Eisschilds zu vermessen. Ohne diesen Mann würde Geertje nicht übers Inlandeis gehen. Aber mit ihm kann sie es auch nicht.

Geertje, wie kamst du ausgerechnet auf Grönland?

„Das ist eine seltsame Geschichte.“

Im Januar, als an den Fenstern noch Eisblumen kleben, treffen wir uns das erste Mal, um über Grönland zu sprechen. Geertje beugt sich ein Stück runter, um mich zur Begrüßung zu umarmen. Zur Funktionskleidung trägt sie einen Rock, auf den kurzen Haaren eine Mütze. In einem einfachen asiatischen Restaurant in Potsdam, zwischen Tee und Suppe, erzählt Geertje, wie das kam mit Grönland. Wenn sie spricht, zwinkern ihre Augen, als müssten sie sich schon jetzt gegen die gleißende Polarsonne schützen.

Es muss 2015 gewesen sein, sagt Geertje. Da stand so ein kleines Auto im Theaterquartier von Potsdam. Ein Opel Corsa vielleicht. „Jedenfalls sah es nicht aus wie das Auto eines Polarforschers.“ Am Heck ein Aufkleber: www.groenlanddurchquerung.de. „Das Wort hat mich gepackt“. Geertje liebt da schon das Eis und den Schnee. Als Reisende und als Künstlerin. Sie googelt und lernt Wilfried Korth kennen. Wilfried, der Polarforscher, und Geertje, die aus Eis Skulpturen schafft, gründen einen Verein, der die Folgen des Klimawandels auf Grönland an Schü­le­r*in­nen vermitteln soll – auch mit Hilfe der Kunst.

Für den Sommer 2019 plant Wilfried Korth eine erneute Expedition – und Geertje soll mit. „Nicht die ganze Durchquerung, das konnte ich mir nicht vorstellen.“ Eine Forschungsstation im Westen der Insel will Geertje begleiten. Das erste Mal Grönland. Doch dazu kommt es nicht.

2019 stirbt Wilfried Korth mit 60 Jahren. Nicht im ewigen Eis. „Das hätte er sich vielleicht sogar gewünscht“, sagt Geertje. Sondern bei einem Fahrradunfall in Brandenburg, wenige Monate vor der geplanten Tour.

Ist das, was du tust, wirklich das, was du willst? Oder haben dich nur die Umstände dahin gebracht?

„Zuerst war mit Wilfried auch die Idee von Grönland tot“, sagt Geertje. Sie trauert um die gemeinsame Leidenschaft, hadert mit dem, was davon übrig ist. „Ich hatte Zeit, über mich nachzudenken.“ Und dann kommt der Punkt, „an dem ich gespürt habe, ich will das trotzdem machen.“ Nicht einfach nur hinfahren, „sondern einmal quer über das Inlandeis gehen.“

560 Kilometer von Ost nach West. In 30 Tagen. Am Anfang wird es nur langsam gehen. Erst mal rauf auf das Eisschild, über steile Kanten, in Steigeisen. Die Schlitten mit der Ausrüstung hochschleppen, bevor du endlich die Skier anschnallen kannst. Bis zu 40 Kilo wiegt jeder der Schlitten zu Beginn der Tour. Geertje Marquardt wird zwei ziehen, genau wie die anderen beiden, die nach Grönland mitkommen. Ein Mann vom Bodensee und eine Frau aus der Schweiz, übers Internet haben die Drei zusammengefunden. Dating für Extremtouren. ­

Es gibt extra Foren für Menschen, die die Polarregion lieben. Warum die anderen beiden mitmachen, haben sie in einem ihrer Videotreffen erzählt. Das sei der Höhepunkt von allem, was sie bisher erlebt habe, sagt die Frau. Für ihn sei es das nächste Level, hat der Mann erzählt. Er wird die Expedition leiten.

Geertje, wie schafft man so eine Tour?

„Man muss das wirklich sehr wollen.“

Mit einem Ruck setzt Geertje an einem Donnerstagmorgen das Gespann mit den Autoreifen in Bewegung. Es ist inzwischen Anfang März, die Sonne scheint durch kahle Bäume. Eingehängt in ein Geschirr um Hüfte und Schultern, schlurfen die Reifen hinter Geertje über den Brandenburger Sand. Nebenan brausen Autos auf der Straße nach Berlin. „Die Reifen sind natürlich leichter als die Schlitten für Grönland“, sagt Geertje. Dafür gleiten sie auch nicht gerade über den Sand, es ist eher ein Zerren. Zerren für Grönland, seit anderthalb Jahren macht Geertje das. Dazu kommen regelmäßige Wanderungen mit einem Freund, ohne Reifen, bis zu 50 Kilometer am Stück. Und jede Woche Crossfit, eine Art Zirkeltraining, das den Körper in Form schindet.

Eine Frau in Funktionskleidung walkt mit Stöcken im Wald und zieht dabei zwei Autoreifen hinter sich her

Reifen statt Schlitten: Training im Wald bei Potsdam Foto: Foto: Sophie Kirchner

„Dass ich so stark bin, war mir als Jugendliche und junge Frau gar nicht bewusst“, sagt Geertje. Weite Klamotten habe sie getragen, die Schultern nach vorn gebeugt, um weniger groß zu wirken. „Ich war nicht stolz auf meinen Körper, weder von innen noch von außen.“ Der Körper: Nicht viel mehr als ein notwendiges Übel.

„Das andere Gefühl kam erst mit der Geburt der Kinder“, sagt Geertje. Von einer Sekunde auf die andere lernst du, was dein Körper aushalten kann und dass der Schmerz vergeht. Und dass es sich danach gut anfühlt. „Es ist nicht schlecht, Kinder bekommen zu haben, wenn man mal Grönland durchqueren will“, sagt Geertje.

Tatsächlich kommt das selten zusammen. Menschen für solche Extremtouren – „Das sind häufig Menschen, die keine Kompromisse machen“, sagt Geertje. Auch in ihrem kleinen Team ist sie die Einzige mit Kindern.

Als wir uns einmal bei ihr zu Hause treffen, hat Geertjes Mann Nüsse und Apfelschnitze auf den Tisch gestellt, den Kaffee schon gekocht. Es ist vor allem er, der den Alltag mit den zwei Kindern, 11 und 15, stemmt. „Das mach ich gern“, sagt er an jenem Nachmittag. Wenn sich die Familie mit anderen aus der Schnee- und Eisszene trifft, dann heißt es manchmal: „Ach, Sie sind der Mann von Geertje“.

Geertje, zweifelst du nie?

„Doch, dass ich nicht gut genug bin, das kommt immer wieder.“

Geertje ist kurz stehengeblieben, die Reifen haben tiefe Furchen in den Sand gegraben und vertrocknetes Laub vom letzten Jahr mitgeschleift. „Vor zwei Tagen war ich an Wilfrieds Grab, um seinen Segen abzuholen.“ Wilfried Korth, der Mentor, Ende Februar wäre er 63 geworden. „Der hat mir so viel zugetraut.“ Und dann erzählt Geertje vom vergangenen Herbst.

Auf einer Probetour für Grönland waren sie und ihr Team in den Schweizer Alpen unterwegs. Je später der Tag, desto mehr fiel sie zurück. „Da war noch mal klar: Ich bin viel schwächer als die anderen.“ Ob sie das nicht ernst genug nehme mit Grönland, hat sie der Expeditionsleiter gefragt. „Das war schlimm. Ich hatte seit einem Jahr nichts anderes gemacht, mein ganzer Fokus war da drauf zu trainieren und Geld zu verdienen für die Tour.“ Das erste Mal in ihrem Leben hat Geertje einen Kredit aufgenommen, rund 14.000 Euro soll dieses Abenteuer am Ende kosten.

Nahaufnahme von einem Händepaar, in den Fingern ein Schlüsselbund, ums Handgelenk eine Fitnessuhr

Mit Fitnessuhr überwacht sie ihre Herzfrequenz Foto: Foto: Sophie Kirchner

Vielleicht kannst du doch nicht mithalten? Vielleicht solltest du deine großen Träume vertagen auf die Zeit, wenn die Kinder groß sind?

Aber Geertje will Grönland durchqueren. Und sie will es jetzt, bevor sie 50 ist. „Ich sehe in meinem Umfeld keine Frauen zwischen 50 und 60, die fit genug dafür sind. Vielleicht geht es ja irgendwann einfach nicht mehr.“

An der Hochschulambulanz Potsdam lässt sich Geertje sportmedizinisch beraten. Bei einem der Termine will die Frau an der Anmeldung sie zur Krankengymnastik schicken. „Die haben dort ja sonst nur junge Leistungssportler.“ Auf Anraten der Ärzte hat Geertje ihr Training umgestellt, mehr Grundlagenausdauer statt Spitzenbelastung. Der letzte Leistungstest war gut, eine deutliche Verbesserung.

„Schneller wäre ich auch nicht gegangen“, hat der Teamleiter dann bei der letzten Probetour gesagt. Und wie sehr sie es schätzten, Geertje dabei zu haben. Eine, die die gute Laune nicht verliert. Egal, wie hart es grad ist.

Geertje, hast du keine Angst?

„Doch, aber nicht so sehr.“

Im Bikini steht Geertje am Heiligen See, im Hintergrund das Potsdamer Marmorpalais. An einem Märzmorgen haben wir uns zum Eisbaden getroffen. Die Nacht war klar, am Rand des Sees schubbern ein paar dünne Eisschollen ans Ufer.

Geertje stellt den Timer ein, im 4 Grad kalten Wasser verlierst du rasch das Gefühl für die Zeit. Drei Minuten gibt sie sich und läuft mit ruhigen Schritten in den See. Kein Quietschen, kein Krietschen. „Schon kalt.“ Geertje lächelt. Nur noch Kopf und Hände sind über Wasser, das Licht ist wundervoll. Fast sieht es aus, als würde sie beten. Lang sind drei Minuten. Keine von uns spricht.

„Ein meditativer Moment“, sagt Geertje später, wieder an Land. Wie betäubt, fast schon schwindelig fühlt es sich an. Ein Tropfen Kälte hängt an ihrer Nase, als sie sich langsam anzieht. „Die Kälte umarmen“, nennt Geertje das.

Drei Dinge gibt es, an die du dein Leben verlieren kannst bei einer Grönlanddurchquerung: Den gefürchteten Sturm Piteraq, der dein Zelt mit sich reißen kann. Dann bist du dieser irren Kälte schutzlos ausgeliefert. Gletscherspalten, so tief, dass dich die Insel für immer verschluckt. Und Eisbären.

Geertje und ihr Team haben in den Alpen Schneebiwaken und die Rettung aus Gletscherspalten geübt. Mitte März hat Geertje an einem Schießstand in Brandenburg aus einem großkalibrigen Gewehr auf ein 50 Meter entferntes Pappwildschwein gefeuert. Recht passabel für das erste Mal. „Ganz schön viel Adrenalin“, sagt Geertje danach. „So nah würde ich einem Eisbären aber lieber nicht kommen.“ Es klingt nicht besonders ängstlich.

„Den Gedanken, dass ich nicht wiederkommen könnte, den gibt es schon“, sagt Geertje. Aber sie habe ein großes Grundvertrauen. „Vielleicht, weil mir in meinem Leben noch nie etwas Schlimmes passiert ist.“

Es gibt auch Menschen, die fragen, wie das denn geht, mit den Kindern. „Dass man so was als Mutter nicht macht, ist so ein Glaubenssatz in der Gesellschaft. Aber ich glaube daran nicht.“ Was wäre das für eine Last für ihre Kinder, sagt Geertje, wenn sie wegen ihnen nicht machen würde, was ihr so sehr am Herzen liegt.

Geertje, was wirst du machen, allein mit dir auf dem ewigen Eis?

„Vielleicht bin ich einfach nur da.“

„Man darf sich auf einer 600 Kilometer langen Strecke in einer Eiswüste keine Sinnfragen stellen.“ Das schreibt Birgit Lutz, die wohl erfahrenste deutsche Polarreisende, in einem Buch über ihre Grönlanddurchquerung. „Wenn man nicht mehr weiß, woran man monate- und jahrelang gearbeitet hat, wenn man die Leidenschaft nicht mehr spürt, die Schönheit des Eises nicht mehr sieht … dann ist man verloren.“ Ihre Tour wurde ein Desaster. Fast hätte Birgit Lutz, die vorher schon mehrfach am Nordpol war, abgebrochen. Fast hätte sie es nicht übers Grönlandeis geschafft.

In einer Gegend, in der nichts ist außer Eis, Schnee und das, was du auf deinem Schlitten hinter dir herziehst, in der du in alle Richtungen nur dasselbe siehst, hat Birgit Lutz Bekanntschaft gemacht mit dem, was die Inuit die „Monster des Inlandeises“ nennen. Auf den stundenlangen Wanderungen kann alles wichtig werden und unwichtig zugleich, der ewig gleiche Gedanke, das ewig gleiche Lied kann sich in deinem Kopf verfangen, bis die Sonne dich auslacht und verhöhnt.

Warum bist du hier? Was willst du dir beweisen? Bist du hier, weil etwas fehlt oder weil da, wo du herkommst, von allem zu viel ist?

Geertje hat das Buch von Birgit Lutz vor einigen Jahren gelesen. „Das mache ich jetzt kurz vorher lieber nicht nochmal“, sagt sie Anfang März.

Sie habe schon lange eine große Solo-Tour machen wollen. „Seit die Kinder da sind, ist diese Sehnsucht noch größer.“ Ohne Team geht es nicht durch Grönland, aber es wird die vielen einsamen Stunden vor dem Schlitten geben. Sieben Stunden am Tag laufen. Ohne die Zivilisation, die deine Sinne überreizt. Nur mit dir selbst. „Vielleicht denke ich mir dann Kunstwerke aus – wie kann ich das wiedergeben, was ich dort erlebe.“ Vielleicht wird sich auch der Gedanke noch einmal einnisten, ob sie gut genug ist, es wirklich schaffen kann. Oder das latent schlechte Gewissen, ob sie zu oft bei der Familie fehlt. „Vielleicht ist da aber auch nur der Moment, einfach sich selber spüren“, sagt Geertje.

Aber warum muss es so extrem sein, so eine krasse Expedition? „Ich habe mal auf einer Norwegen-Tour mit Wilfried bei Schneesturm ein Zelt aufgebaut, es war irre anstrengend, wir mussten uns anschreien, haben fast nichts gesehen. Und wir hatten so einen Spaß! Ich hab zu Wilfried gesagt: Wie sollen wir bloß jemanden erklären, warum das hier so toll ist?“

Die Lust auf etwas Neues, das über die bisherigen Grenzen hinausragt. Diese Lust habe jeder Mensch in sich, „aber wenn man zu konform lebt, immer nur im kleinen Häuschen, immer nur das tut, was alle erwarten, geht sie verloren“. Myrtle Simpson, die erste Frau, die Grönland zu Fuß durchquerte, hat das vor ein paar Jahren in einem Interview gesagt. Da war sie gerade 90 geworden.

Ende März, nach mehr als anderthalb Jahren Training, ist Geertje kurz vor der Abreise. Wir treffen uns ein letztes Mal, bei einem kleinen Abschiedsfest mit Freun­d*in­nen und der Familie.

Geertje, bist du bereit?

„Ja.“

Am Lagerfeuer kocht Geertje eine Gemüsesuppe. „Bist du sehr aufgeregt?“, fragt jemand. „Du kennst doch Geertje“, antwortet ihr Mann und alle lachen. Mit einer großen Schöpfkelle verteilt Geertje die Suppe und beantwortet die vielen Fragen: „Wie kalt ist es da gerade?“ („Minus 17 Grad.“), „Was werdet ihr essen?“ („Vor allem gefriergetrocknete Nahrung zubereitet mit geschmolzenem Schnee.“), „Wie wirst du es aushalten ohne soziale Medien?“ („Gut.“).

Es ist schon lange dunkel, da gibt je­de*r noch einen guten Wunsch mit auf die Reise. Es ist die 15-jährige Tochter, die „Komm erfüllt wieder“ auf ein Stück Papier schreibt, ihr Wunsch geht auf in den Flammen des Abschiedsfeuers. Vielleicht ist schon jetzt mehr davon erreicht, als andere je schaffen.

Geertje Marquardt will Grönland durchqueren, und morgen geht sie los.

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