Sozial- und Bildungsberufe: Ein fatale Optik

Bildung und Pflege sind wirtschaftlich gesehen nicht produktiv, deshalb gelten sie als teuer. Aber auch diese Bereiche profitieren vom Wachstum.

Erzieherinnen mit Kindern

Kann schlecht von Robotern übernommen werden: Kinderbetreuung in einer Kita in München Foto: Frank Hoermann/imago

Was ist eigentlich ökonomisches Wachstum? Diese Frage wirkt banal, hat aber immense Auswirkungen. Selbst scheinbar ferne Bereiche wie Kinderkrippen, Schulen, Krankenhäuser oder Pflegeheime sind davon elementar betroffen. Wenn etwa Pflegekräfte streiken, dann ist die eigentliche Frage, wer vom Wachstum profitieren soll.

Ökonomisches Wachstum ist zunächst einmal ganz simpel: Es existiert immer dann, wenn mehr Waren und Dienstleistungen entstehen als zuvor. Zwar ist dieses „Mehr“ nicht leicht zu messen, aber diese Ungenauigkeiten sollen hier keine Rolle spielen. Es reicht zu wissen, dass es ein „Mehr“ gibt. Diese Güter entstehen durch Arbeit, und trotzdem sind es nicht die Beschäftigten, die das Wachstum erzeugen. Denn die Menschen ändern sich ja nicht wirklich. Sie haben zwei Arme und zwei Beine, und deutlich intelligenter werden sie auch nicht. Wenn es also zu Wachstum kommt, kann es nicht an der Arbeit der Einzelnen liegen. Der Treiber ist die Technik, die ständig besser und effizienter wird. Die Maschinen machen uns reich. Die Ökonomen nennen das auch „Zuwachs an Produktivität“.

Allerdings ist nicht jede Branche gleich geeignet, um Technik einzusetzen. In der Fertigung von Industriegütern arbeiten kaum noch Menschen. So wird in der Automobilbranche fast alles von Robotern geschweißt, und in den riesigen Hallen stehen nur noch einige Beschäftigte, um an Computern die Arbeit der maschinellen Kollegen zu überwachen. Dafür lassen sich andere Bereiche fast gar nicht technisieren: Dazu gehört etwa das Betreuen von Kleinkindern in Krippen.

Kinderbetreuung ist eine Dienstleistung, was häufig zu dem Missverständnis führt, dass sich Dienstleistungen ganz generell nicht technisieren ließen. Doch das Gegenteil ist wahr. Gerade für die Dienstleistungen werden oft sehr viele Maschinen eingesetzt. „Dienstleistungen“ sind für die Ökonomen alle Güter, die man nicht lagern kann, weil Erstellung und Verbrauch zusammenfallen. Typische Beispiele sind ein Flug nach Mallorca oder eine Zugfahrt nach München. Die Bahn produziert keine Reisen auf Vorrat, anders als Audi, wo die Autos zum Teil auf Halde stehen, bevor sie verkauft werden. Trotzdem sind Bahnfahrten oder Flugreisen fast reine Technik, die nur relativ wenig Personal benötigen.

Ein anderes Beispiel sind die Banken, die ebenfalls zu den Dienstleistern zählen und inzwischen fast komplett mechanisiert sind. Kassierer wurden durch Geldautomaten ersetzt, und auch ansonsten wurde sehr viel Personal eingespart, weil die Kunden ihr Banking jetzt online erledigen. Auch das Investmentgeschäft ist weitgehend automatisiert, indem die Computer berechnen, wann welches Derivat gekauft oder verkauft werden sollte.

Lehrer müssen sein. Das ist keine gute Nachricht, wenn man nur das Wachstum erhöhen will

Betreuung, Pflege und Bildung sind also rare Ausnahmen, weil sie sich nicht technisieren lassen. Aber ausgerechnet diese Branchen sind elementar und nicht ersetzbar. Es wäre falsch, Kinder nicht zur Schule zu schicken. Zwar gibt es Bildungsprogramme, die sich auf dem Laptop ansehen lassen, aber spätestens die Corona-Lockdowns haben zweifelsfrei bewiesen, dass die meisten Kinder schwer leiden und nur geringe Fortschritte machen, wenn sie nicht mit ihren Klassenkameraden und Lehrern zusammen sein können.

Lehrer müssen also sein. Das ist keine gute Nachricht, wenn man nur das Wachstum erhöhen will – denn in der Bildung gibt es keine Zunahme an Produktivität. Um jedes Missverständnis zu vermeiden: Das ist keine Kritik an den Lehrern, sondern eine reine Beschreibung der Realität. Im 19. Jahrhundert saßen in den Volksschulen zum Teil 50 Kinder in einer Klasse, heute unterrichtet ein Lehrer nur noch ungefähr 25 Schüler. Wenn man so will, ist die Produktivität der Lehrer sogar noch gesunken. Wo früher einer reichte, werden jetzt zwei gebraucht.

Höhere Löhne durch mehr Produktivität

In der Pflege ist es ähnlich: Das Krankenhauspersonal kann nicht ständig noch mehr Patienten betreuen, wenn es allen gut gehen soll. Rund ums Klinikbett steigt die Produktivität also ebenfalls nicht. Das hat enorme Konsequenzen, denn sofort stellen sich gravierende Verteilungsfragen, die die gesamte Gesellschaft betreffen. Um dieses Verteilungsproblem zu verstehen, hilft es, sich zunächst den – leicht idealisierten – Normalfall in einer Industriegesellschaft anzusehen: Durch den technischen Fortschritt werden ständig mehr Waren und Dienstleistungen hergestellt, sodass auch die Löhne steigen können, weil es ja mehr zu kaufen gibt.

Dieser Gleichklang von steigender Produktivität und steigenden Löhnen gilt jedoch nicht automatisch für Bildung und Pflege, denn dort gibt es kaum Technik. Gleichzeitig wäre es aber unmöglich, Lehrern oder Pflegern nur so viel zu zahlen wie im 19. Jahrhundert, weil dann niemand mehr diese Berufe ausüben würde. Bleibt also nur, dass Lehrer und Pfleger genauso gut bezahlt werden wie der Rest der Gesellschaft – indem alle anderen Beschäftigten und Steuerzahler einen Teil ihrer steigenden Einkommen abgeben, um die fehlende Produktivität in diesen Sektoren auszugleichen.

Eigentlich ist diese Umverteilung kein Problem, aber es kommt zu einer fatalen Optik: Es wirkt, als würden Pflege und Bildung immer „teurer“. Die gesellschaftliche Reaktion ist entsprechend ab­strus: Wenn etwas „teuer“ ist, dann muss man dort „sparen“. Die Löhne der Pfleger lassen sich jedoch nur bedingt drücken, weil sich sonst keine Pfleger mehr finden würden. Also bleibt als „Ausweg“ nur, möglichst wenig Pfleger einzustellen. Die Konsequenzen lassen sich in jedem Krankenhaus und Altersheim besichtigen.

An diesen desaströsen Zuständen wird sich erst etwas ändern, wenn die Gesellschaft versteht, dass es kein Problem ist, wenn die Pflege „teuer“ wird, weil sie sich eigentlich aus dem Wachstum finanziert.

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Der Kapitalismus fasziniert Ulrike schon seit der Schulzeit, als sie kurz vor dem Abitur in Gemeinschaftskunde mit dem Streit zwischen Angebots- und Nachfragetheorie konfrontiert wurde. Der weitere Weg wirkt nur von außen zufällig: Zunächst machte Ulrike eine Banklehre, absolvierte dann die Henri-Nannen-Schule für Journalismus, um anschließend an der FU Berlin Geschichte und Philosophie zu studieren. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung in Hamburg und Pressesprecherin der Hamburger Gleichstellungssenatorin Krista Sager (Grüne). Seit 2000 ist sie bei der taz und schreibt nebenher Bücher. Ihr neuester Bestseller heißt: "Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind - und wie wir in Zukunft leben werden". Von ihr stammen auch die Bestseller „Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht“ (Piper 2012), „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ (Piper 2015), "Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie - oder was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können" (Piper 2018) sowie "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind" (Piper 2022).

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