Ex-Hartz-IV-Empfängerin über Karriere: „Soziale Herkunft sieht man nicht“

Natalya Nepomnyashcha hat ein Netzwerk für Menschen aus finanzschwachen Familien gegründet. Ein Gespräch über soziale Scham.

Porträt von Natalya Nepomnyashcha mit Brille und grünem Hoodie

Auf einem Bild kann man soziale Herkunft nicht sehen, sagt Natalya Nepomnyashcha, deshalb müsse man sie anders sichtbar machen – durch Daten Foto: Doro Zinn

Ein Café in Berlin-Friedrichshain an einem Montag, 13 Uhr. Natalya Nepomnyashcha kommt aus dem Homeoffice. Als der Kellner den Kaffee bringt, bestellt sie gleich noch einen. Sie erzählt viel in Anekdoten, wägt ihre Antworten aber sorgfältig ab. Nach dem Gespräch muss sie sofort los, zum nächsten Termin.

wochentaz: Frau Nepomnyashcha, Sie haben Karriere gemacht – Sie arbeiten für eine bekannte Unternehmensberatung und haben ein eigenes Social-Start-up gegründet. Wenn Ihnen das jemand vor zehn Jahren prophezeit hätte, was hätten Sie gesagt?

Natalya Nepomnyashcha: Ich hätte es schlicht nicht geglaubt. Ich hätte demjenigen gesagt, dass die Wahrscheinlichkeit dafür bei 0,1 Prozent liegt.

Als Jugendliche lebten Sie in Augsburg mit Ihren Eltern von Hartz IV. Sie haben einmal gesagt, Sie empfanden damals eine „tiefe soziale Scham“. Können Sie dafür ein Beispiel geben?

Der Mensch

Natalya Nepomnyashcha, geboren 1989 in Kiew, kam 2001 mit ihrer Familie als Kontingentflüchtling nach Augsburg. Nach der Realschule ließ sie sich zur Fremdsprachenkorrespondentin, Übersetzerin und Dolmetscherin für Spanisch und Englisch ausbilden. 2012 machte sie in Großbritannien ihren Master in Internationalen Beziehungen und arbeitete dann in der Kommunikations- und Unternehmensberatung. Seit 2020 ist sie für die Firma Ernst & Young tätig.

Das Netzwerk

2016 gründete Nepomnyashcha das gemeinnützige Netzwerk Chancen. Die Plattform bietet Menschen zwischen 18 und 39 Jahren aus nichtakademischen und finanzschwachen Familien Coachings und Workshops an, unter anderem zum Thema Karriereplanung.

Wenn ich Klamotten einkaufen war, und eben nicht bei Woolworth oder Kik, sondern bei Pimkie oder Orsay, also in Läden, in die man als Jugendliche halt gegangen ist. Ich habe mich dann geschämt. Ich dachte, wenn meine Schulkameradinnen mich sehen, denken die: ‚Was maßt die sich an, dass sie solche Modemarken tragen kann?‘ Ich hatte das Gefühl, zu meinem Stand gehört es, in billigere Läden zu gehen.

Können Sie das Gefühl näher beschreiben?

Es war die Angst, gesehen zu werden. Angst, etwas Falsches zu machen oder zu sagen. Etwas, das sich für jemanden aus meiner sozialen Schicht nicht gehört. Und dafür dann ausgelacht zu werden.

Wo kam dieses Gefühl her?

Meine Familie stammt aus Kiew. Meine Eltern waren typische Sowjetkinder. Sie fühlten sich in einem System wohl, in dem der Staat alles für sie macht, ihnen alles vorschreibt. Als die Sowjetunion zerfiel, verloren sie ihre Jobs und fanden sich in dem neuen System überhaupt nicht zurecht. Sie wurden immer verschlossener. Wenn wir unter Leuten waren, haben sie kaum etwas gesagt. Es war, als ob sie sich dafür schämten, überhaupt da zu sein. So etwas überträgt sich; besonders wenn man, wie ich, ein Einzelkind ist.

Ihre Familie war in der Ukraine sehr arm.

Ja. Alle Klamotten, die ich trug, waren gebraucht. Ich werde nie meinen zehnten Geburtstag vergessen: Die Mutter einer Freundin schenkte mir einen neuen roten Rollkragenpullover und eine schwarze Leggins. Ich war unheimlich stolz.

Als Sie elf waren, kamen Sie und Ihre Familie als Kontingentflüchtlinge nach Augsburg. Was waren damals Ihre ersten Eindrücke?

„Die Angst vor dem Ruin sitzt wahnsinnig tief. Das geht vielen Menschen aus finanzschwachen Familien so“

Wir haben zunächst in einem Wohnheim in einer Gegend voller Einfamilienhäuser gelebt. Da war alles sauber, gediegen, ordentlich. So, wie ich mir Deutschland vorgestellt hatte. Dann sind wir in eine eigene Wohnung gezogen, nach Augsburg-Oberhausen. Eine Ghetto-Gegend. Da gab es eine große Straße, auf der einen Seite lebten Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion, auf der anderen Menschen mit türkischen Wurzeln. Viele Familien lebten von Hartz IV. Es gab nichts, was man unternehmen konnte, keine Cafés oder dergleichen. Es war hoffnungslos, trist.

Und Ihre Schulzeit?

Die war nicht schön, zumindest zu Beginn. Ich war es aus Kiew gewöhnt, gute Noten zu schreiben. Und dann war ich plötzlich irgendwo, wo ich nichts verstand. Ich kam in eine Übergangsklasse, mit Kindern aus verschiedenen Ländern, die ebenfalls frisch eingewandert waren. Was mir rückblickend gefehlt hat, waren Psy­cho­lo­g:in­nen und Sozialarbeiter:innen, die in der Muttersprache mit den Kindern sprechen. Meine ersten Freunde waren Jungs und Mädchen, die Russisch sprachen und schon länger im Land waren.

Konnten Ihre Eltern Ihnen Halt geben?

Wenn ich ehrlich bin, nein. Meine Eltern konnten kein Deutsch. Ich habe damals schnell die Sprache gelernt, musste für sie dolmetschen. Bei Terminen hat man dann oft zu mir gesagt: „Frag deine Eltern, warum sie kein Deutsch sprechen.“ Für ein Kind ist das eine schwierige Situation. Meine Eltern haben mir Liebe gegeben. Aber keinen Halt. Es ist aber auch schwer, Halt zu geben, wenn man selbst keinen hat. Meine Eltern haben nie wieder Arbeit gefunden. Ich glaube, dass sie seit den Neunzigern keine glücklichen Menschen sind.

Dann wollten Sie aufs Gymnasium, bekamen aber nur eine Empfehlung für die Realschule.

Eines Montags wurde uns in der Schule überraschend mitgeteilt, dass wir jetzt getestet werden und dann entschieden wird, auf was für eine Schule wir kommen. Es wurden Sachen abgefragt, die wir nie behandelt hatten. Vieles wusste ich nicht, also hieß es: Für das Gymnasium bist du nicht gut genug.

Wie haben Ihre Eltern reagiert?

Wenn meine Eltern ein besseres Verständnis davon gehabt hätten, wie das Schulsystem funktioniert, hätten sie etwas machen können. Bei diesen Empfehlungen ist es meist so, dass Akademiker-Eltern nach oben korrigieren. Das heißt, wenn ihr Kind eine Realschul-Empfehlung bekommt, geben sie es trotzdem auf ein Gymnasium. Nicht-Akademiker-Eltern hingegen akzeptieren die Empfehlung oder korrigieren nach unten – weil sie denken, dass sie ihrem Kind nicht helfen können. Von den Eltern hängt sehr viel ab in so einer Situation. Ich wurde damals ziemlich allein gelassen.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Sie sind dann zur Realschule gegangen, hatten gute Noten. Nach der neunten Klasse haben Sie sich persönlich bei einem Augsburger Gymnasium vorgestellt.

Ja, es hatte den Ruf, dass man da einfach raufkommt. Ich bin zum Konrektor gegangen, habe gesagt, dass ich später gern studieren und nach den Sommerferien auf das Gymnasium gehen würde.

Wie hat er reagiert?

Er hat mich ausgelacht, hat gesagt, dass ich da nicht hingehöre. Dass es schon einen Sinn gehabt hat, dass ich auf die Realschule gekommen bin.

Das ist hart.

Es hat sich in die Reihe negativer Erfahrungen eingefügt. Ich dachte: Okay, ich bin halt nur zweite Klasse, ich gehöre da nicht hin. Die ganze Tragweite wurde mir erst später klar. Ich habe die Realschule dann mit 1,0 abgeschlossen und eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin gemacht.

Nach der Ansage des Konrektors haben Sie sich Abi und Studium nicht mehr zugetraut?

Ich wollte vor allem Sicherheit. Ich hatte enorme Angst vor der Arbeitslosigkeit und davor, ohne irgendetwas dazustehen. Ich hatte ja kein Sicherheitsnetz. Ich dachte, wenn etwas passiert und ich dringend einen Job brauche, dann habe ich einen Berufsabschluss und kann sofort anfangen zu arbeiten. Diese Angst vor dem Ruin sitzt wahnsinnig tief. Das geht vielen Menschen aus finanzschwachen Familien so.

Wie müsste das Schulsystem verändert werden, damit sozialer Aufstieg besser gelingt?

Die Aufteilung in Hauptschule, Realschule und Gymnasium ist das Problem. Es ist nicht gut, Kinder auf Schultypen zu verteilen. Es verbaut ihnen Chancen, steckt sie in Schubladen, aus denen sie nicht herauskommen. Was wir brauchen, sind Gemeinschaftsschulen. Schulen, in denen sie gemeinsam lernen und individuell gefördert werden.

Sie haben diesen Einwand schon oft gehört: Wie soll eine individuelle Förderung finanziell und personell funktionieren, vor allem im Hinblick auf den Lehrkräftemangel?

Das ist doch kein Argument. Wenn man ein Problem hat, muss man es an­gehen. Dass die Finanzierung schwierig ist, liegt auch daran, dass es ein Kompetenzgerangel zwischen Bund und Ländern gibt. Der Bund verfügt über die Finanzen, kann sie aber nicht in Personal stecken. Die Länder sind zwar zuständig, sagen aber, ihnen fehle das Geld. Es ist absurd, dass das auf dem Rücken der Kinder ausgetragen wird.


Sie selbst haben dann über einen Umweg in Großbritannien studiert.

Ja, ich hatte noch eine zweite Ausbildung zur Dolmetscherin in München gemacht. Die Universität in Großbritannien hat diese als Bachelor akzeptiert. Ich konnte also meinen Master machen. Ich habe Internationale Beziehungen studiert.

Zurück in Deutschland haben Sie 80 Bewerbungen geschrieben – alle erfolglos.

Mich hat das auch überrascht. Ich dachte, mit einem Auslandsstudium und fünf Sprachen – ich spreche Deutsch, Russisch, Ukrainisch, Englisch und Spanisch – würde ich was finden. Dann wurde mir klar: Mir fehlen Netzwerke und relevante Praktika. Die Menschen, mit denen ich um die Stellen konkurrierte, stammten oft aus wohlbehüteten Verhältnissen. Sie hatten an Elite-Unis studiert, früh Praktika im Auswärtigen Amt, im Bundestag oder bei großen Unternehmen gemacht. Da konnte ich nicht mithalten.

Glauben Sie, dass auch Ihre Herkunft ein Grund für die Absagen war?

Der Geschäftsführer eines kleinen Unternehmens sagte mir mit der Begründung ab, dass Kunden meinen Nachnamen nicht aussprechen können würden. Dass meine Herkunft auch sonst zu Absagen geführt hat, kann ich nicht belegen. Überraschen würde es mich nicht. Studien belegen, dass Menschen mit ausländisch klingenden Nachnamen seltener zu Vorstellungsgesprächen eingeladen werden.

Was haben Sie dann getan?

Ich habe angefangen zu netzwerken. Ich wollte im Bereich Außenpolitik tätig sein. Also habe ich Events besucht, bin in Vereine eingetreten. Ich habe mich bei der Jungen Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (Junge DGAP) engagiert. Die Leute, die da waren, konnten sich alle sehr gut ausdrücken, haben eine totale Selbstverständlichkeit ausgestrahlt. Ich habe mich erst mal gar nicht getraut, irgendwas zu sagen.

Soziale Scham?

Ja. Bei den ersten Sitzungen saß ich minutenlang einfach nur da. Diese Leute waren oft Referendar:innen, die Jura studiert hatten. Ich hatte wahnsinnig Respekt vor denen. Mit welcher Selbstverständlichkeit die gesagt haben: „Komm, wir organisieren ein Event und laden die und die Person dazu ein.“ Ich musste meinen ganzen Mut zusammennehmen, um auch mal einen Namen zu nennen.

Und welcher Name war das?

Gregor Gysi war einer der ersten, die ich vorgeschlagen habe. Und es hat geklappt. Ich war megaaufgeregt, wir haben die Events ja selbst moderiert. Aber Gysi war ein sehr angenehmer Gast. Danach habe ich mir gesagt: Natalya, dass du das geschafft hast, ohne dich zu verzetteln, Respekt.

Sind Sie stolz darauf, trotz aller Widrigkeiten so weit gekommen zu sein?

Ja. Ich habe es mir aber auch hart erarbeitet. Vielleicht habe ich auch ein bisschen Glück gehabt. Wobei ich an das Glück der Tüchtigen glaube. Wenn man superhart kämpft, hat man irgendwann auch Glück.

Kann man erkennen, aus welcher Schicht jemand kommt?

Soziale Herkunft ist etwas, das man auf den ersten Blick nicht sieht. Man spürt sie eher, oftmals unbewusst. Die Art und Weise, wie sich jemand den Mund zuhält oder die Nase putzt, kann ein Hinweis sein. Aber es ist nie ganz eindeutig und von Land zu Land verschieden.

Woran erkennen Personaler die Herkunft im Lebenslauf?

Wenn jemand neben dem Studium bei McDonald’s gearbeitet hat, ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Person aus einem nichtakademischen Haushalt kommt. Dasselbe, wenn jemand gar keine Auslandserfahrung hat oder an einer Fachhochschule war.

2016 haben Sie das „Netzwerk Chancen“ für junge Menschen aus nichtakademischen und finanzschwachen Familien gegründet. Um anderen, denen es ähnlich geht wie Ihnen früher, beim Aufstieg zu helfen?

Ja. Ziel war es, dass diese Menschen es einfacher haben als ich. Und das nicht nur beim Berufseinstieg, sondern auch danach, wenn sie bereits in einem Unternehmen sind.

Sie bringen diese Menschen unter anderem mit Mitarbeitenden von Firmen und Organisationen zusammen.

Die jungen Menschen, die sich bei unserem Netzwerk melden, befinden sich an unterschiedlichen Stellen im Leben. Manche machen eine Ausbildung, andere studieren oder sind seit Jahren berufstätig, nicht alle sind auf Arbeitssuche. Das ist oft das größte Missverständnis: Die Leute denken, dass diejenigen, die sich unserem Netzwerk anschließen, arbeitslos sind. Dass es ihnen richtig schlecht geht. Dabei sind 90 Prozent von ihnen Akademiker:innen, sie kommen nur eben aus nichtakademischen Familien. Sie können sich oft gut ausdrücken, haben gute Noten. Vielen fehlen schlicht die Kontakte und das Know-how, um beruflich weiterzukommen.

Man kann in Ihrem Netzwerk an Workshops für professionelles Auftreten teilnehmen. Gleichzeitig sprechen Sie von dieser tiefsitzenden Scham. Wie wandelbar ist ein Mensch?

Wandel ist ein zu krasses Wort, darum geht es nicht. Wir wollen, dass die Menschen erkennen, wo ihre Stärken liegen, und darauf aufbauend ihren Aufstieg planen. Man kann sich viel antrainieren; man kann lernen, strategisch zu netzwerken, richtig auf andere Menschen zuzugehen. Je länger man sich in einer neuen sozialen Schicht bewegt, desto mehr nimmt man deren Verhaltensweisen an.

Gab es in Ihrer eigenen Biografie Momente, in denen Sie dachten: Bis hierhin und nicht weiter, wenn ich diese Eigenschaft annehme, dann bin das nicht mehr ich?

Ich mag keinen Alkohol, er schmeckt mir nicht. Ich war einmal bei einem gehobenen Abendessen, bei dem zu jedem Gang ein anderer Wein serviert wurde. Danach habe ich mir gesagt: Das hast du nur mitgemacht, weil du dazugehören wolltest. Inzwischen trinke ich gar keinen Alkohol mehr und sage das auch. Bei einem anderen Abendessen fingen Bekannte an, übers Golfen zu reden. Ich habe gesagt, dass ich aufgrund meiner sozialen Herkunft nicht mit­reden kann. Das konnten sie nicht verstehen, dass das etwas Kulturelles ist. Dass Menschen, die in einfachen Verhältnissen aufwachsen, kein Golf spielen. Ich möchte mich da nicht anpassen und finde es legitim zu sagen, dass das Thema exkludierend ist.

Was muss sich, abgesehen von den Schulen, strukturell ändern, damit es mehr soziale Diversität in der deutschen Arbeitswelt gibt?


Wir brauchen gute frühkindliche Förderung und eine ordentliche Berufsberatung – eine, die nicht primär auf den Schulabschluss und auf Noten, sondern auf Stärken und Interessen eines Menschen blickt. Dann muss das Bafög erhöht werden, Vollzeitpraktika müssen mindestens vierstellig vergütet werden, sonst können sich das nur junge Menschen aus wohlhabenden Familien leisten. Außerdem muss soziale Herkunft als Kategorie ins Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) aufgenommen werden. Es gibt Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft, wenn mitunter auch unbewusst. Es ist wichtig, das aufzuzeigen.

Das müsste dann aber definiert und nachgewiesen werden.

Hier Diskriminierung nachzuweisen kann mühsam sein, das stimmt. Das ist aber Sache von Jurist:innen. Oft ist es eine Einzelfallentscheidung. Wenn jemand befördert wurde und jemand anderes nicht, muss man schauen, ob die sonstigen Rahmenbedingungen beider Kan­di­da­t:in­nen gleich sind.

Ist die Arbeitswelt in den letzten Jahren nicht schon diverser geworden?

Ja. Als wir mit unserem Netzwerk angefangen haben, hat in Deutschland niemand über soziale Diversität geredet. Inzwischen wurde soziale Herkunft in die Charta der Vielfalt, eine Selbstverpflichtungserklärung verschiedener Unternehmen, aufgenommen. Seitdem wird darüber diskutiert. Aber das ist noch nicht das Ende der Reise. Unternehmen müssen sich konkret fragen: Wo und wie rekrutiere ich Menschen? Was für Netzwerke biete ich an? Wie stelle ich insbesondere in elitären Branchen wie der Finanzwelt sicher, dass nicht nur Menschen aus wohlbehüteten Verhältnissen weiterkommen?

Dazu braucht es mehr Daten zur sozia­len Herkunft.

Ja. Ich verstehe, dass diese Daten sensibel sind. Aber anonymisiert könnte man sie abfragen. Solange man keine Daten zur sozialen Herkunft hat, gibt es keine Transparenz. Und die ist wichtig. Wenn auf einem Unternehmensfoto nur weiße Männer zu sehen sind, keine Frauen oder nichtweiße Menschen, wird das zu Recht kritisiert. Soziale Herkunft aber kann man auf einem Bild nicht sehen. Man muss sie anders sichtbar machen. Weil sonst kein Handlungsdruck entsteht. Das ist das Ziel von „Netzwerk Chancen“: Ich will soziale Diversität bis ganz oben, bis in die Chefetagen.

Sie haben den Aufstieg geschafft. Mussten Sie dafür etwas zurücklassen?

Das Deutlichste ist die Entfremdung von den Eltern. Man hat keine gemeinsamen Themen mehr. Meine Eltern verstehen nicht, was eine Unternehmensberatung macht. Sie verstehen ganz rudimentär, dass ich eine Organisation habe, die junge Menschen unterstützt. Aber Workshops, Coachings – das ist alles zu abstrakt für sie.

Macht Sie das traurig?

Ich habe es akzeptiert. Traurig war ich, als ich noch zur Schule gegangen bin. Da habe ich ihnen schon gesagt: „Wollt ihr nicht wenigstens versuchen, Arbeit zu finden?“ Aber es hat nichts gebracht. Also habe ich das Thema ausgeklammert. Mit 17 bin ich ausgezogen. Heute sehe ich meine Eltern einmal im Jahr, wir telefonieren alle zwei Wochen. Meist reden wir über das Wetter oder darüber, welche Serien man geschaut hat.

Gibt es neben einer sozialen Scham auch eine Scham des sozialen Aufstiegs?

Bei mir nicht. Dazu habe ich zu wenig Kontakt in meine alte Welt.

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