„Spuckstein“ in Bremen: Respekt für alle

Auf die Stelle, an der die Giftmörderin Gesche Gottfried hingerichtet wurde, wird in Bremen gespuckt. Gegen diese Tradition regt sich Widerstand.

Juditha Friehe vor dem Spuckstein

Juditha Friehe will der Mörderin ihre Würde zurückgeben Foto: Nikolai Wolff/Fotoetage

BREMEN taz | Igitt. Wie ekelig. Und würdelos. Bremen! Was bilden sich die Ver­mark­te­r:in­nen der gemütlichen Wesermetropole ein, Verhaltensauffälligkeiten nur wenige Schritte von der Nordseite des Doms entfernt als eine Tradition anzupreisen, die als Mitmachpraxis an Touristen vermittelt werden kann?

Da kommt jedenfalls schon wieder eine Be­su­che­r:in­nen­grup­pe herbeigeschnattert, eine 7. Klasse auf Bremenfahrt. Der jugendlich wirken wollende Lehrer stoppt und erzählt, dass hier auf dem Domshof am 21. April 1831 eine Bühne vor 35.000 Gaffern aufgebaut war, auf der die wegen 15-fachen Mordes „zum Tode mittels des Schwertes“ verurteilte Gesche Gottfried enthauptet wurde.

Genau an der Stelle ließen Bremer später ins Granitpflaster einen Basaltquader ein, in den ein Kreuz geritzt ist. Gedacht als Gedenkstein für das blutrünstige Ritual staatlichen Mordens, denn es sollte das letzte vollstreckte Todesurteil in Bremen sein. Irgendwann begannen Menschen aber auf den Stein zu spucken, eine besonders rohe Art der Kommunikation, um Verachtung für die Delinquentin möglichst demütigend auszudrücken.

Seither gelten die Speichelkanonaden offiziell als Brauchtumspflege. „Haltet die Bremer bitte nicht für ungehobelte Menschen, wenn ihr mal beobachtet, wie sie auf den Domshof spucken“, steht unter der Überschrift „Bremen erleben!“ auf dem Stadtportal der Wirtschaftsförderung. So animiert lädt auch der oben erwähnte Lehrer seine Schutzbefohlenen ein zum öffentlichen Speien.

Auffällig: Nur Jungs nehmen das Angebot an. Ist Auf-den-Boden-Rotzen als Männlichkeitsgehabe doch auch sonst beliebt, soll Stärke und Coolness demonstrieren.

Zivilisatorischer Reifeprozess

Dabei hat der Soziologe Norbert Elias bereits 1939, in seinem Standardwerk „Über den Prozess der Zivilisation“, die allmähliche Tabuisierung des öffentlichen Spuckens beschrieben, für ein Zeichen des zivilisatorischen Reifeprozesses. Heute, mit dem Wissen um Staub- und Tröpfcheninfektionen, gilt Spucken nicht mehr nur als anstößiges Verhalten, sondern auch als krankheitserregend. Nur nicht am Spuckstein in Bremen.

Wer von einer gegenüberliegenden Bank zuschaut, sieht nicht nur Urlaubende in allen Gruppenstärken, sondern immer wieder auch einen Eingeborenen, der mal eben fix seinen Glibber im Mund bündelt und strahlkräftig auf dem Stein platziert. Es gibt auch Zeitgenoss:innen, die entsorgen Kaugummi auf den Spuckstein oder treten ihre Zigarettenstummel dort aus. So ist die Touristenattraktion meist von Dreck gerahmt und mit qualligen Schleimpfützen bedeckt. Nur ein klitzekleines Grünpflänzchen reckt sich tapfer in einer Pflasterfuge der Sonnen entgegen.

Doch die Spucksteinnutzung ist nicht nur aus ästhetischer, sondern auch aus juristischer und menschlicher Perspektive ein Unsitte. Denn es wird ja auf einen Menschen gespuckt. Jeder Fußballer weiß, Affekt- und Hassspuckerei auf Kollegen gibt sofort die Rote Karte und bedeutet den Ausschluss aus der Spielgemeinschaft. Müsste das auch für die Schändung der Erinnerung einer Toten gelten?

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, steht in Artikel 1 des Grundgesetzes. Das hat die Bremerin Juditha Friehe mit schwarzer Schrift auf gelbes Papier geschrieben und neben den Stein geklebt. Sie sagt: „Der Artikel gilt auch für Gesche Gottfried, unabhängig von dem, was sie Grausames getan hat.“ Das Spuckgebot und die Tat selbst sind also Verstöße gegen das Grundgesetz? Durchaus logisch, denn die Würde des Menschen ist nach Auslegung des Bundesverfassungsgerichtes unantastbar auch über den Tod hinaus.

Blumen und Kerzen

Zur Abschreckung von Spu­cke­r:in­nen schmückt Friehe den an Gesche Gottfried erinnernden Stein immer mal wieder mit Blumen und Kerzen. Sie ist sich sicher, um die speicheligen Auswürfe nachhaltig zu beenden, müsse der Stein des Anstoßes ins Bremer Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte ausgelagert werden, das bereits einen Abguss von Gesches Totenmaske beherbergt. Am ursprünglichen Platz könnte ein Baum wachsen oder eine Gedenktafel stehen.

Einmal wurde der Stein bereits entfernt. 1931 hatte jemand gegen den loswütenden Faschismus mit Hammer und Meißel aus dem Steinkreuz ein Hakenkreuz gemacht, damit darauf gespuckt werde. In der Folge verschwand der Stein jahrelang im Landesmuseum, wurde dort wohl abgeschliffen und später mit neu eingekerbtem Kreuz auf den Domshof zurückgebracht.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Eine weitere Verunzierung fand kürzlich keine Sympathie bei Juditha Friehe. Klebte ein Künstler doch das Antlitz Putins auf den Stein. „Wer das macht, hat nichts von meiner Aktion verstanden“, klagt sie. Es gehe eben nicht um das richtige menschliche Objekt fürs Bespucken, sondern darum, dass das grundgesetzlich nicht in Ordnung sei.

Genauso erklären das auch viele Gäs­te­füh­re­r:in­nen und bitten ihre Stadtrundgangs-Teilnehmer:innen, vom Spucken abzusehen. Was Friehe sehr freut. „Da merke ich, bereits was erreicht zu haben.“ Im Internet wird ihr Anliegen allerdings schon mal als woker Wahn beschimpft, in Leserbriefen der Lokalzeitung regt sich Widerstand, diese „harmlose Tradition“ verbieten zu wollen, „weil jemand Moralin rüberkippt“. Der Stein müsse als Teil der Bremer Geschichte bleiben, wo er ist.

Bremen hat seinen Gästen halt wenig Spektakuläres zu bieten, das Marktplatzsetting als Unesco-Weltkulturerbe, plus Böttcherstraße, Schnoor-Viertel und Weser-Bummel ist an einem halben Tag erledigt. Für dieses Basispaket eines Bremenbesuchs gehören Spuckstein und Gesches Geschichte einfach dazu, PR-mäßig angepriesen mit Adjektiven wie „schaurig“ oder „gruselig“.

Zu Gesches Lebzeiten reichten Schausteller sogar den Antrag ein, die Inhaftierte in persona auf dem Freimarkt ausstellen zu dürfen

In Spiritus eingelegter Kopf

Zu Gesches Lebzeiten reichten Schausteller sogar den Antrag ein, die Inhaftierte in persona auf dem Freimarkt ausstellen zu dürfen. Ihr in Spiritus eingelegter Kopf und das Skelett waren später im Kuriositätenkabinett des naturwissenschaftlich-völkerkundlichen Museums am Domshof zu sehen.

Menschen lassen sich gern mal einen Schrecken zu Unterhaltungszwecken einjagen. So wie in Hamburg das Dungeon ein bisschen Horrorkitzel mit Stadtgeschichte verbindet, in Hannover „Fritz Haarmann – Die Mördertour“ gebucht werden kann, Jack-the-Ripper-Wanderungen durchs Londoner East End führen, ist in an der Weser Gesche Gottfried eine Protagonistin für Führungen mit Titeln wie „Bremens düstere Seiten“ oder „Hexen, Geister, dunkle Gassen – Schauergeschichten der Bremer Altstadt“.

Im Ratskeller geistert Gesche gar durch das „Nachts in Bremen“-Musical, das mit einem 4-Gänge-Menü serviert wird. Allerdings ohne Mäusebutter – die einst gegen Nagerplagen helfende Vermengung von Schmalz und Arsen hatte die Serienmörderin ihren Opfern aufs Brot geschmiert.

Warum wurde Gesche Gottfried zur Mörderin? Ihr Anwalt stellte sie als kaltblütige Mörderin dar, die Richter sahen sie aus niederen Beweggründen morden: für Erbschaften, Erlass von Schulden und ungehemmten Zugang zu wechselnden Sexpartnern. Allerdings galt sie bis zur Verhaftung als „Engel von Bremen“, weil sie sich stets rührend um die vergiftet Dahinsiechenden gekümmert hat. Ein Ablenkungsmanöver? Anzeichen des Münchhausen-Stellvertretersyndroms? Ausdruck einer psychisch haltlosen Frau?

Eine ganz andere Perspektive lieferte Rainer Werner Fassbinder bereits 1972 mit seinem später auch verfilmten Theaterstück „Bremer Freiheit“, das im Bremer „Concordia“ uraufgeführt wurde. Darin gleicht die Mordserie einer Emanzipationsbewegung – ein Befreiungsakt gegen saufende, gewalttätige Männer, patriarchale Machtverhältnisse und Verklemmtheiten einer calvinistischen Gesellschaft.

„Das Emanzipatorische sehe ich auch, aber vor allem eine kranke Frau“, sagt Juditha Friehe. „Ich möchte, dass Bremen in Zukunft damit prahlt, dass es eine Stadt ist, die sich ihre Würde zurückholt, indem sie die Würde einer Gesche Gottfried respektiert.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.