Die StVO torpediert die Verkehrswende: Der Granit muss weg

Die Straßenverkehrsordnung ist ein Problem: Sie lässt viele Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung nur zu, wenn es schon gehäufte Unfallzahlen gibt.

Biene an Blume, im Hintergund fährt ein Fahrrad

So schön ist es auf der Bergmannstraße – aber darum geht es gemäß StVO überhaupt nicht Foto: picture alliance/dpa | Christoph Soeder

Manche Projekte starten als High-Tech-Cargobike und kommen als Dreirad an. Die Enttäuschung war Annika Gerold und Andreas Knie ins Gesicht geschrieben, als sie am vergangenen Dienstag den jüngsten Stand in Sachen „parkplatzfreier Graefekiez“ verkündeten. Eigentlich wollten die grüne Verkehrsstadträtin von Friedrichshain-Kreuzberg und der Mobilitätsforscher vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) einen Verkehrsversuch in dem beliebten Gründerzeitkiez starten, bei dem die meisten der rund 2.000 Straßenparkplätze für bis zu einem Jahr weggefallen wären.

Jetzt ist nicht mehr allzu viel davon übrig geblieben: Maximal 400 Parkplätze werden es sein, und nur auf rund 80 davon wird es tatsächlich unkonventionelle Nutzungen wie Sitz- und Spielfächen oder Urban Gardening geben, die restlichen werden in Ladezonen und Stellplätze für Car- oder Bikesharing umgewandelt. Das große Experiment, ob es sich nicht besser lebt in einem Viertel, das keine Dauerabstellanlage mehr für Pkws ist – es wird nicht stattfinden, und schuld daran ist nicht die SPD, sondern die Straßenverkehrsordnung.

Die StVO, die praktisch alles regelt, was auf deutschen Straßen passiert, steckt immer noch tief in der Vergangenheit – sie ist „Granit“, wie Andreas Knie gegenüber der taz beklagt. Zwar erlaubt die Verordnung im Zuge sogenannter Verkehrsversuche auch ungewöhnliche Eingriffe in den Verkehr, wie es im Graefekiez vorgesehen war. Auch in diesem Fall aber gilt das Dogma: Es muss eine überdurchschnittliche Gefahrenlage geben, die damit verringert werden soll. Dasselbe gilt für fast alle Verkehrsanordnungen, mit wenigen Ausnahmen wie etwa Fahrradstraßen oder Tempo-30-Zonen.

Nur in einem „Kernbereich“ des Graefekiezes wird nun noch wirklich experimentiert: Es handelt sich um zwei von vier Seiten eines Häuserblocks, und sie passen nur deshalb zur StVO-Denke, weil sich hier mehrere Schulen befinden. Dass das gesamte Viertel schon seit den 80er Jahren offiziell eine verkehrsberuhigte Zone ist, und dass sich exakt niemand an die entsprechenden Regeln wie das Fahren mit Schrittgeschwindigkeit hält, steht noch mal auf einem anderen Blatt – hier verspricht das Bezirksamt nun nachzubessern.

Der Fall zeigt auf, wie fragil die Mobilitätswende immer noch ist, weil sie von veralteten rechtlichen Normen anhängt, die auf Landesebene nicht geändert werden können. Und dass die Öffentlichkeit sich darüber oft im Unklaren befindet, wie – ebenfalls am Dienstag – eine Verwaltungsrichterin in der Verhandlung zu einem nicht unähnlichen Fall im Nachbarkiez sagte: Man höre immer nur von innovativen stadtplanerischen Ideen, wenn es um Verkehrsberuhigung gehe, und übersehe dabei, dass alle Anordnungen immer der Gefahrenabwehr dienen müssen. Also auch Zweirichtungsfahrradstreifen, 10-km/h-Tempolimit und Einbahnstraßenregelungen, wie sie vor zwei Jahren auf der Bergmannstraße eingeführt wurden.

Alles StVO-konform oder was?

Dagegen hatte ein Anwohner geklagt, der glaubt, dass die gewünschte Verkehrsberuhigung in der Nebenstraße, wo er lebt, exakt das Gegenteil zur Folge hat – weil dort jetzt viele Lastwagen und Pkw einen Ausweg aus dem Kiez suchen. Glück für die Verwaltung: Im Fall der Bergmannstraße kann sie nachweisen, dass es auf der belebten Flaniermeile tatsächlich eine Unfallhäufung gab. Alles StVO-konform, folgerte deshalb auch das Gericht, das gar nicht anders kann, als sich an diese Vorgaben zu halten.

Ein weiteres Beispiel für die rückwärtsgewandte Wirkung der StVO ist die Busspur auf der Zehlendorfer Clayallee. Hier mussten aufgrund einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts die Markierungen im letzten Herbst von der Straße gekratzt werden. Begründung: Es gibt keine besondere Gefahrenlage, und sowieso fahren dort zu wenige Busse, um per Sonderspur mehr Flüssigkeit im Verkehr herzustellen, was offenbar noch als Hilfsargument durchgehen würde. (Mittlerweile hat sich freilich herausgestellt, dass die Entscheidung wohl auf falschen Zahlen bei der Busfrequenz beruhte.)

Etwas dramatisch formuliert hat die Verkehrswende also nur dann eine Zukunft, wenn endlich die bundesweiten Rechtsgrundlagen aufgemischt werden. Von der regierenden Ampelkoalition zu erwarten ist das leider nicht.

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Jahrgang 1969, lebt seit 1991 in Berlin. Seit 2001 arbeitet er mit Unterbrechungen bei der taz Berlin, mittlerweile als Redakteur für die Themen Umwelt, Mobilität, Natur- und Klimaschutz.

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