Geflüchtet in die Literatur: Was Melle Ilse Losa verdankt

Im niedersächsischen Melle entsteht ein „Frauenort“ in memoriam Ilse Losa: Dort wurde die portugiesische Autorin vor 110 Jahren geboren.

Eine alte Frau, es ist Ilse Losa, sitzt auf einem Balkon in der Kleinstadt Melle und schaut freundlich in die Kamera

Ilse Losa in den 1980er-Jahren beim Besuch in Melle Foto: Doris Horst/NOZ-Archiv

MELLE taz | Manchmal kann es von Vorteil sein, dass die Mühlen der kommunalen Selbstverwaltung so schnell nun auch wieder nicht mahlen. Zum Beispiel ist es im Grunde sogar gut, dass es jetzt doch noch keine Eröffnung gibt in Melle, pünktlich zum 110. Geburtstag der bedeutenden portugiesischen Autorin Ilse Losa am 20. März. Das hatten Barbara Daiber, Irene Below und Angela Kemper ja im September noch fest vorgehabt. Jetzt aber gibt es zwar zwei Gedenk- und Feierstunden.

Die „Vorlage 01/2024/0012, Einrichtung eines frauenORTs Ilse Losa“ jedoch ist noch im Verfahren. Im Februar hat sie die zuständigen Ausschüsse durchlaufen. Und kommenden Mittwoch dann steht sie als TOP 20 zur Abstimmung im Rat der Stadt Melle. Das ist wohl nur noch eine Formalie, aber notwendig ist sie.

Und für die Einweihung planen die drei Frauen, deren Projekt das ist, aktuell mit einem Termin fast ein ganzes Jahr später. Am 10. März 2024 soll es richtig losgehen, endlich. „Aber das ist eigentlich das viel bessere Datum“, sagt Kemper. „Es ist ja viel politischer.“

Denn: Auch das ist ein Jahrestag im Leben der Ilse Losa. Am 9. März 1934, also 90 Jahre zuvor, war die junge Frau in Hamburg laut Stempel im Pass an Bord des Dampfschiffs „Generals San Martin“ gegangen. Am Tag darauf legt es ab. „Klasse III“ steht oben rechts auf dem Blatt der Passagierliste der Hamburg–Amerika-Linie, deren Digitalisat Kemper gefunden hat. Ausgefüllt worden war das Original per Schreibmaschine. Als „Ziel der Auswanderung bzw. Reise“ ist in Spalte 12 der Tabelle „Leixoes“ vermerkt, der Hafen von Porto, hinter dem Namen „Lieblich, Ilse“, Alter: 20, weiblich, ledig, deutsch.

Portugal ist sicher kein Wunschziel

Sie flieht vor dem Judenhass, wird von den Nazis aber auch wegen politischer Äußerungen verfolgt. Da drängt sich das Reich des Faschisten António Salazars nicht als Wunschziel auf. Klar, ihr älterer Bruder Ernst darf sich dort nach gut einem Jahr Haft als illegaler Einwanderer immerhin wieder frei bewegen, bis es klappt mit der Ausreise nach Amerika. Das ist ihre vage Verbindung dorthin. Bei der Ankunft spricht sie noch kein Wort Portugiesisch.

Das ändert sich. Rasant. Schon im Jahr darauf wird die junge Frau aus Buer (ein Ortsteil von Melle) zu den Gründerinnen der Associação Feminina Portuguesa para a Paz gehören, einer feministischen Friedensvereinigung, sie wird den aufstrebenden Architekten Ar­ménio Taveiro Losa kennenlernen und heiraten, der zum Widerstand gegen das Regime zählt, und schließlich, 1949, den ersten ihrer drei Romane veröffentlichen: „O Mundo em que vivi“, zu Deutsch: „Die Welt in der ich lebte“, erscheint sechs Jahre nach der Geburt ihrer zweiten Tochter.

Heute würde man ihn als autofiktional labeln. Es ist wahrscheinlich das einzige Buch, das Auskunft gibt über eine jüdische Kindheit im ländlichen Deutschland zwischen Kaiser- und Nazi­reich. Mit ihm gehen Melle-Buer und der sanft-hügelige Gröne­gau zwischen Osnabrück und Bielefeld ein in die portugiesische Literatur.

Niedersachsen war 2008 das zweite Bundesland, in dem das Gedenkkonzept Frauenorte sich etabliert hat. „Wir haben das aus Sachsen-Anhalt übernommen“, erklärt Antje Peters, Geschäftsführerin des Landesfrauenrats. Dort war es zur Jahrhundertwende initiiert worden zur Zeit der rot-grünen Minderheitsregierung. Die Idee dahinter ist schlicht und gerade deswegen erfolgreich: „Es ist ein emotionaler Zugang“, so Peters.

Eingebunden in bestehende touristische Konzepte wird das Wirken von Frauenpersönlichkeiten an deren Lebensstationen ins Bewusstsein gerufen. Es gibt Flyer, Porträtpostkarten, Gedenktafeln mit biografischen Infos.

In Melle, so die Idee der Initiatorinnen, soll Daiber, die freischaffende Künstlerin ist, ein ästhetisches Konzept entwickeln für die Präsentation. Unbedingt soll es auch Hörstationen geben, mit professionell eingelesenen Texten Ilse Losas, abrufbar per QR-Code, stellvertretend fürs Œuvre.

Vielfalt gibt's nur mit Widersprüchen

Der Frauenrat stiftet nur die Postkarten und stellt das Logo zur Verfügung. Er vernetzt die Orte und wacht darüber, dass die jeweiligen Vorschläge auch den fachlichen Kriterien genügen. Die sind weit genug, um auch eine aufrechte Antidemokratin wie Ricarda Huch aus Braunschweig auszuhalten. Und man fragt sich unwillkürlich, wie Losa das wohl gefunden hätte, mit dieser Vordenkerin der Reichsbürgerbewegung auf derselben Bühne stehen zu müssen. Na ja, Vielfalt ohne Widersprüche ist keine Vielfalt.

Mittlerweile jedenfalls machen 47 Frauenorte mehr als 1.000 Jahre Landes- und Frauengeschichte sichtbar. „Wichtig ist die Verankerung in den Kommunen“, so Peters. „Das ist sinnvoll für die Nachhaltigkeit.“ Initiativen können sich auflösen, das Interesse verlieren. Wenn eine Stadt oder Gemeinde den Vorschlag stützt, „entwickelt das einfach eine andere Strahlkraft“.

Angela Kemper, zuvor Lehrerin mit Schwerpunkt Gender am Bielefelder Oberstufenkolleg, ist vergangenes Jahr als Letzte zum „Team Losa“ dazugestoßen, quasi mit Beginn ihres Ruhestands, zum Glück. „Wir können die Arbeitsschwerpunkte gut auf drei Menschen aufteilen“, sagt Irene Below, ihre auf kunsthistorische Exilforschung fokussierte Kollegin von früher. Sie wohnt ja nicht hier, sondern in Werther.

Das gehört schon zu Nordrhein-Westfalen, auch wenn es direkt neben Melle liegt, und „die Kommunikation dort vor Ort ist nicht so mein Ding“, sagt Below. So ganz allein aber wäre es Daiber zu viel geworden, mit den Anträgen, Finanzplänen und dem Lobbying, so neben der Arbeit im Kulturzentrum Wilde Rose, wo sie das Malatelier leitet. Sporadisch hatten alle drei schon früher Kontakt mit Losas Werk.

Aber sich intensiver darum zu kümmern und dabei auch zu erkunden, was es mit ihrer in Deutschland völlig unbekannten Kinderliteratur auf sich hat, damit hatten Below und Daiber erst vor knapp vier Jahren angefangen. „Das war unser Coronaprojekt“, sagt Below.

Als Reisen wieder möglich waren, hatte sich Daiber in Portugal auf die Suche gemacht. In der Stadtbücherei von Odemira hatte ihr das Personal schließlich einen ganz Tisch mit zahlreichen Bilder­büchern präsentiert, die Losa zwischen 1949 und 1991 veröffentlicht hatte. „Da waren die Bi­blio­the­ka­r*in­nen am Ende selbst beeindruckt“, sagt Daiber.

Wenigstens einen dieser über 20 Titel gibt es mittlerweile dank ihr und Below auch in einer zweisprachigen Ausgabe: „Beatriz e o Plátano“ erzählt die Geschichte einer jungen und erfolgreichen Baumbesetzerin. Es entstand 1977, kurz nach der Nelkenrevolution, durch die Portugal zur Demokratie gekommen war. Andere Bände – ach!, momentan stocken da die Verhandlungen zwischen Verlag und den Rechtein­habern.

Dafür aber kam dann eben die Frauen­orte-Idee, sodass der Schwung nicht versandet ist: Sie haben die Kommunalpolitik vom Projekt überzeugt. Der amtierende Ortsbürgermeister von Buer wird am Sonntag ein Grußwort halten, obwohl die Veranstaltung doch in der Lesescheune stattfindet, deren Hausherr sein langjähriger Gegenspieler und sein Vorgänger war.

Mit Daibers Wilde-Rosen-Verein kooperieren auch der Kulturverein artig e. V. in Buer, der Heimatverein sowie der Heimat- und Verschönerungsverein, die ja doch nicht alle dieselbe Vorstellung davon haben, wie man mit Vergangenheit umgeht. Ilse Losa aber – „also seit wir das machen“, berichtet Barbara Daiber über die Erfahrung mit diesem Projekt, „gehen ständig irgendwo Türen auf“.

Ilse Losa hat mit ihren Übersetzungen von Alvis Redol und Manuel da Fonseca Portugal nach Deutschland geholt. Die 230 Millionen Portugiesisch-­Mut­ter­sprach­le­r*in­nen lernen „Das Tagebuch der Anne Frank“, Anna Seghers Erzählungen, Bert Brechts „Mutter Courage“ oder „Der gute Mensch von Sezuan“ in den Worten Ilse Losas kennen. Und Ilse Losa vermag auch, scheint’s, Zusammenhalt zu stiften, Gemeinschaft in einem Ort wie Melle.

„Für Melle hat das Projekt insofern Bedeutung, als damit der Fokus auf eine Stadt gelenkt wird, in der Erinnerungskultur eine wichtige Rolle spielt“, lässt die Bürgermeisterin Jutta Dettmann (SPD) auf Nachfrage mitteilen. Vielleicht wird sie am Montag bei der Feierstunde in der Alten Postmeisterei einen Hauch pathetischer oder auch nur konkreter in ihrer Festrede.

Die Pracht-Avenue trifft auf die Kleinstadtstraße

Die längste Zeit seiner Geschichte war Melle eine sogenannte Halbstadt. Der historische Begriff, der heute bedeutungslos geworden ist, scheint den Zustand dieses Gemeinwesens perfekt zu beschreiben: Melle erstreckt sich auf 254 Quadratkilometer, hat also etwas mehr Fläche als Hannover. Aber gut 80 Prozent davon bestehen halt aus Acker und Wald.

Die Stadtteile waren früher eigenständige Dörfer. Im Herzen sind sie das, mit einem gewissen Stolz, meist geblieben. Städtisch, na ja, sagen wir mal: kleinstädtisch, wirkt der zentrale Hauptort, und wer auf dem propper gepflastertem Marktplatz steht, erfasst erst den Humor, wenn Losa im Text „Na Praça da Liberdade“ (Auf dem Freiheitsplatz) erzählt, wie sie eben in Porto die Avenida dos Aliados entlangflaniert, eine absolute Prachtstraße mit Repräsentationsbauten, in Richtung der bombastischen Câmara Municipal.

Und eben bei deren Anblick kommt ihr unversehens „uma rua da minha infância“ in den Sinn, eine Straße ihrer Kindheit. Die Mühlenstraße nämlich. Auch die führt zum Rathaus – eben dem schnuckeligen Rathaus von Melle mit seinen neobarocken Giebeln.

Es ist nicht so, dass vor Daiber, Kemper und Below niemand in Melle von Ilse Losa gewusst hätte. Die Stadtbücherei hat alles vorrätig, was es von ihr bislang auf dem westdeutschen Buchmarkt gab, und zeigt dauerhaft die schon 2002 von der Bielefelder Multimediakünstlerin Gabriele Undine Meyer geschaffene Fotoinstallation „Recall Lieblich“.

Eine Ausstellung gibt’s im Heimathaus Osnabrücker Tor in Buer. Und der ungepflasterten Zuwegung zum jüdischen Friedhof, draußen am Hang zwischen den Feldern, hat man den Namen Ilse-Losa-Weg gegeben, was die Stadtverwaltung als „Beitrag zur Erinnerungskultur“ bezeichnet, die es ja aber auch schwer hat: Die Häuser der Familie, die privaten Gedenk­orte, die Synagoge von Buer stehen ja nicht mehr.

Aber es sind Sachen in Gang gekommen. Es ist ein Briefwechsel aufgetaucht, mit einer Jugendfreundin, die später Losas Veröffentlichungen auf Deutsch lektoriert hat. Es sind Erinnerungen wach geworden. Vielleicht ist es möglich, den Nachlass in Porto zu erkunden. „Das ist unser nächstes Ziel“, sagt Below.

Gerade erst hat sich der Enkel gemeldet, sich bedankt – „I am very thankful for your initiatives“ –, und hat auf Bitten der drei Frauen den Pass seiner Großmutter gesucht, keiner wusste, wo er war, und schließlich gefunden, auf dem Dachboden. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende.

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