Zeitzeuge des Nationalsozialismus: „Nicht als Held gefühlt“

Paul Fairbrook floh als Zehnjähriger vor den Nazis in die USA – und war in einer geheimen Armeeeinheit beteiligt an der Niederlage der Wehrmacht.

Menschen stehen vor einem Geschäft, auf den Schaufensterscheiben steht fünf mal groß das Wort Jude

Berlin im Jahr 1933, jüdische Geschäfte werden beschmiert und boykottiert Foto: Gemini Collection/imago

taz: Herr Fairbrook, erinnern Sie sich an die Zeit, als die Nazis an die Macht gekommen sind?

Mein Vater arbeitete an der Börse. 1933 empfahlen ihm Freunde, besser aus Deutschland abzuhauen. Damals verboten die Nazis mir und meinem Zwillingsbruder, eine bestimmte Schule zu besuchen, weil ich jüdisch war. Mein Vater sagte: „In diesem Land bleibe ich nicht.“ Wir fuhren dann nach Palästina. Aber dort hatte mein Vater keinen geschäftlichen Erfolg. Seine Fabrik für landwirtschaftliche Geräte ging 1938 pleite. Meine Mutter und mein Bruder bekamen Typhus. Deswegen beschloss Vater, in die USA zu gehen. Es dauerte sechs Monate, bis wir die Visa erhielten.

Wir war Ihr Leben 1933?

Wir lebten in einem wunderbaren Haus in Charlottenburg in der Württembergischen Straße 31. Ich hatte ein eigenes Kinderzimmer. Ich erinnere mich – es muss 1932 gewesen sein –, dass sie meinen Zwillingsbruder und mich aus dem Tierschutzverein ausschlossen. Mein Vater sah schon damals, dass der Antisemitismus immer stärker wurde, er wollte nicht, dass seine Familie darunter leidet. Deshalb hat er meine Mutter und die vier Kinder ins französische Elsass-Lothringen geschickt. Dort lebten wir ein Jahr und lernten Französisch. 1933 kamen wir kurz nach Berlin und sind von dort nach Palästina gereist.

99, hieß ursprünglich Paul Schönbach und stammt aus Berlin. Er lebt in der Nähe von San Francisco.

Sie hatten Glück.

Der einzige antisemitische Vorfall, den ich erlebt habe, geschah 1938 auf dem Weg nach Holland, von wo wir in die USA aufbrechen sollten. Mutter und wir Kinder waren in Slowenien, und sie kaufte eine Eisenbahnfahrkarte quer durch Deutschland nach Holland. An der Grenze hat uns ein Nazi aus dem Zug geholt und gesagt, dass wir nicht nach Deutschland fahren dürften. Meine Mutter verwies auf ihren deutschen Pass, aber der Mann sagte, der sei durch ihre Ausreise nach Palästina ungültig geworden. Wenn wir bis Mitternacht Deutschland nicht wieder verlassen hätten, würde wir alle ins KZ gesperrt. Er schrie meine Mutter an. Die folgende Nacht war schrecklich.

In den USA wurden Sie im Krieg zur Army eingezogen. Sie kamen zu einer geheimen Einheit, den Ritchie Boys. Die wurden darauf trainiert, deutsche Kriegsgefangene zu befragen.

Wir galten damals noch als „feindliche Ausländer“, weil wir Deutsche waren. Anfangs, als ich mich freiwillig zur Armee gemeldet hatte, haben sie mich deshalb nicht genommen. Aber im Januar 1943 wurde ich akzeptiert und nach ein paar Wochen nach Camp Ritchie geschickt. Ich wurde amerikanischer Staatsbürger. Mein Vater hatte unsere Namen von Schönbach in Fairbrook übersetzt.

Wollten Sie Rache an den Deutschen üben?

Nein. Wir wurden zur Befragung von deutschen Kriegsgefangenen ausgebildet. Wir haben alles über die Wehrmacht gelernt. Nach dem Abschluss kam ich zu einer anderen Ausbildung. Es ging darum, alles über die Wehrmacht Bekannte aufzuschreiben. Ich kam in eine Einheit „Military Intelligence Research Section“. Neunzehn von uns kamen in ein geheimes Lager nicht weit vom Pentagon. Das hieß nur P.O. Box 1142. Wir hatten die Aufgabe, ein Buch über die Wehrmacht zu schreiben: „Order of Battle of the German Army“. Das war eine große Hilfe für die Befragungen von deutschen Gefangenen, denn so wussten wir über jede einzelne Einheit Bescheid, über die Stärke, wo sie gekämpft hatte und so weiter. Wir wussten mehr über die Einheit als der Gefangene. So wurde der gesprächiger.

Sie können sehr stolz auf Ihren Beitrag zum Sieg der Alliierten über die Nazis sein.

Ehrlich gesagt: Damals wusste ich nicht, dass das so wichtig war. Wir waren 19 Jahre alt. Ich habe mich wirklich nicht als Held gefühlt, bis heute nicht. Ich war ja nie in Gefahr.

Wollten Sie mit den Deutschen nach dem Krieg nie mehr etwas zu tun haben?

Kurz nach Kriegsende kam ich zurück nach Camp Ritchie. Wir sollten dort aus allen unseren Informationen eine Bibliothek aufbauen. Dort traf ich zum ersten Mal deutsche Kriegsgefangene. Mit denen habe ich mich natürlich unterhalten.

Porträt von Paul Fairbrook

Paul Fairbrook Foto: Craig Sanders/imago

Sind Sie später auch nach Deutschland gereist?

Ich wollte eigentlich nichts mehr mit Deutschland zu tun haben. Mein Onkel, meine Tante und zwei Cousinen sind von den Nazis getötet worden. Ich bin von Beruf Leiter einer Mensa an einer Uni gewesen und hatte ein Buch zum Thema geschrieben. Das war ein großer Erfolg. Ich wurde zu einem Vortrag nach Kassel eingeladen. Einer der Zuhörer von damals ist mir zum langjährigen Freund geworden. Ich spreche jede Woche mit ihm. Als ich vor ein paar Jahren in Deutschland war, hatte ich eines der auch von mir geschriebenen Bücher über die Wehrmacht dabei und wollte es Angela Merkel überreichen, aber sie musste den Termin leider absagen. Ich habe ihr das Buch gewidmet, weil sie eine feine Frau ist, die all die Flüchtlinge ins Land gelassen hat.

In diesem Jahr werden Sie einhundert Jahre alt?

Ja, am 21. August. Aber das ist für mich kein besonderes Ziel. Ich habe ein anderes: Ich möchte noch erleben, wie Donald Trump endlich verschwindet. Ich möchte so lange am Leben bleiben, dass ich seinem Untergang beiwohnen kann. Ich bin ein liberaler Demokrat.

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