Wiederaufbau in Butscha: Fast keine Ruinen

Butscha, ein Vorort von Kyjiw, wurde vor einem Jahr zum ersten Symbol für grausame russische Kriegs­verbrechen. Jetzt herrscht Aufbruchstimmung.

Zwei Frauen auf einer Baustelle

Auf der Woksalna-Straße in Kyjiws Vorort Butscha Foto: Dominika Zarzycka/imago

BUTSCHA taz | Die Woksalna-Straße in Kyjiws Vorort Butscha ist nur rund 30 Autominuten von der ukrai­nischen Hauptstadt entfernt. Fast nichts erinnert hier mehr die Bilder, die vor fast genau einem Jahr, kurz nach dem Abzug der russischen Truppen, um die Welt gingen. Verkohlte, zerstörte russische Panzer und andere Kriegsfahrzeuge – die Reste einer 30 Kilometer langen Kolonne, die bis nach Kyjiw vorstoßen sollte – reihten sich genauso aneinander wie Häuser, die bis auf die Grundmauern niedergebrannt waren.

Heute wirkt es, als ob die Straße fast vollständig aus den Ruinen wiederauferstanden sei. Nur vor einigen Grundstücken türmen sich noch Schutt und Steine. Viele Gebäude sind instandgesetzt oder neu gebaut worden. Auch jetzt, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, wird allerorten gehämmert, verputzt und gestrichen. Auf einem Gerüst stehen mehrere Männer und arbeiten an einem Rohbau. Einer von ihnen kauert mit einer Zigarette am Boden.

Er und seine Kollegen gehörten einem Bautrupp aus der Westukraine an, schon einen Monat seien sie hier, sagt er. Ein großes Plakat weist die nichtstaatliche Global Empowerment Mission (GEM), eine Organisation mit Hauptsitz in den USA, als Finanzier des Wiederaufbaus aus. Bis zum Ende des Frühjahrs sollen insgesamt 110 Häuser in der Woksalna bezugsfertig sein.

Ein paar Minuten Fußweg entfernt kreuzt die Woksalna- die Jablunska-Straße. Auch diese erlangte traurige Berühmtheit: Hier lagen im März vorigen Jahres überall Leichen, einige mit auf dem Rücken gefesselten Händen, neben ihnen ihre Fahrräder und aufgerissenen Einkaufstüten – sie alle stumme Zeugen barbarischer Kriegsverbrechen. Im Hof eines mehrstöckigen Wohnhauses kündeten im April 2022, wenige Tage nach der Befreiung Butschas, Holzkreuze mit Heiligenbildern von zwei provisorischen Gräbern. Doch das ist jetzt Vergangenheit. Auch hier scheint es längst begonnen zu haben: das Leben danach.

Opferzahlen und die Frage nach dem Warum

Laut der Stadtverwaltung von Butscha sind 458 Menschen während der 33-tägigen russischen Besatzung zu Tode gekommen, darunter zwölf Kinder. Doch diese Zählung stammt aus dem vergangenen Sommer, die Daten verändern sich laufend, weil auch jetzt immer noch Leichen gefunden und geborgen werden. Die vorläufige Statistik des Grauens findet sich auch im kürzlich erschienen Buch „Die Heldenstädte Butscha, Irpin und Hostomel“ der ukrainischen Journalistin Yevhenia Podobna. Unter den fürchterlichen Zahlen steht dort der Satz: „Die wichtigste Frage, auf die wir wohl nie eine Antwort erhalten werden, lautet: Warum?“

Die Stadtverwaltung von Butscha befindet sich in der zentral gelegenen Energetikiw-Straße, Hausnummer 12. Das langgezogene, dreistöckige Gebäude hat die Besatzungszeit fast unbeschadet überstanden. An einem Vormittag Mitte März, zwei Wochen vor dem ersten Jahrestag der Befreiung, findet dort eine Premiere statt. Die stellvertretende Bürgermeisterin Mychailyna Skorik-Schkariwska hat Ver­tre­te­r*in­nen von Nichtregierungsorganisationen und Initiativen zu einem ersten Vernetzungstreffen gebeten. Der Sitzungssaal ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Gut 40 Augenpaare blicken erwartungsvoll in Richtung der Vizebürgermeisterin.

Wiederaufbau trotz Finanzschwierigkeiten

Skorik-Schkariwska erhebt sich zur Begrüßung und bittet um Entschuldigung, dass das Treffen wegen Luftalarms mit 10 Minuten Verspätung beginnt. Sie fordert die Gäste auf, sich mit Heißgetränken und Häppchen zu versorgen, die auf einem Tisch in der Ecke bereitstehen. Dann beginnt die Präsentation. Ihr ist zu entnehmen, dass sich die Kriegsschäden auf umgerechnet rund 178,4 Mil­lio­nen Euro belaufen. Dem steht für 2023 ein kommunales Budget von 35,5 Millionen Euro gegenüber. „Wir haben nicht genügend Geld, um alles wieder aufzubauen“, so fasst die 43-Jährige die Lage zusammen.

Im vergangenen Jahr habe die Kommune vor allem von Hilfszahlungen aus dem Ausland gelebt. Mit ein Grund dafür: Durch die Zerstörung des 7 Kilometer von Butscha entfernten Militärflughafens Antonow in Hostomel hat die Region ihren größten Arbeitgeber verloren. Vor Kriegsbeginn lebten in der Stadt Butscha 53.000 Menschen, in der gesamten Kommune waren es 75.000. Seitdem haben sich die Einwohnerzahlen fast halbiert. Aber: Mindestens 5.220 Menschen sind seit dem Ende der russischen Besatzung auch wieder zugezogen, teils aus anderen Regionen, als ukrainische Binnengeflüchtete.

Das Treffen geht in die nächste Runde, die Teil­neh­me­r*in­nen werden gebeten, sich und ihre Organisationen kurz vorzustellen. Wissen­schaft­le­r*in­nen, Ärz­t*in­nen, Psy­cho­lo­g*in­nen und Medien- und Kulturschaffende sind gekommen, aber auch Ver­tre­te­r*in­nen von kleinen und mittelständischen Betrieben, Tourismusagenturen und Frauengruppen. Ein Mann sagt, er sei ein Geflüchteter aus Mariupol und habe dort in Digitalisierungsprojekten gearbeitet. Seine Erfahrung wolle er jetzt auch Butscha zugute kommen lassen.

Russische Truppen hatten Mariupol, einst eine blühende Hafenmetropole am Asowschen Meer, im vorigen Jahr während monatelanger Kämpfe in Schutt und Asche gebombt – von 90 Prozent der Bauten ist so gut wie nichts mehr übriggeblieben. Vergangene Woche stattete Russlands Präsident Wladimir Putin dem besetzten Ma­riu­pol erstmals einen Besuch ab, nachts, in der Dunkelheit, um sich nach dem Fortgang der Wiederaufbauarbeiten zu erkundigen, wie russische Medien es formulierten.

Im Sitzungsaal in Butscha haben sich die Anwesenden mittlerweile zu Kleingruppen zusammengetan, der informelle Teil der Veranstaltung beginnt – Zeit für ein kurzes Gespräch mit Mychailyna Skorik-Schkariwska. Sie ist studierte Journalistin und Mutter eines Sohns. Ihr Mann wurde 2014 bei einem Kampfeinsatz im Donbass getötet.

Trotz allem optimistischer Blick in die Zukunft

Sie sitzt als Abgeordnete im Stadtparlament von Irpin und hat seit Mai 2022 auch das Amt der stellvertretenden Bürgermeisterin von Butscha inne. Probleme gebe es viele, sagt sie. Von 3.000 zerstörten Objekten seien bislang 800 wieder aufgebaut worden. Besonders treibt sie um, dass viele junge Familien mit Kindern noch nicht nach Butscha zurückgekehrt seien. Aber die Menschen blickten trotz allem optimistisch in die Zukunft, betont sie.

Bereits vor dem Krieg habe es in der Stadt und der Kommune eine engagierte Zivilgesellschaft gegeben. Derzeit seien rund 30 bis 50 Nichtregierungsorganisationen aktiv. Der Bedarf steige, vor allem an psychologischen Hilfsangeboten. Viele begriffen erst nach und nach, was geschehen sei. Doch Aufgeben sei keine Option. „Wer will schon an einem Ort der Tragödie wohnen, so wie Tschornobyl. Wir kämpfen dafür, hier wieder normal leben zu können, und wir wollen aus dem Projekt Butscha einen Erfolg machen. Dafür reicht ein repariertes Dach nicht“, sagt Skorik-Schkariwska.

Was Bürgerengagement zu bewegen vermag, ist nur einen Katzensprung von der Stadtverwaltung entfernt in der Energetikiw-Straße Nummer 3 zu besichtigen. „Co-Working – Arbeitsplätze, Geschäftstreffen, Gespräche, Interviews“, verheißt ein Schild in einem Schaufenster. In einem hellen Raum mit einem Tresen für Getränkeausschank sitzen vier Mädchen an einem großen Tisch über Zeichenblöcke gebeugt, vor sich Stifte, Mal- und Tuschkästen. Eine ältere Dame sitzt als Unterstützerin dabei. An einer Wand hängen zwölf bunte Kinderzeichnungen – darunter kaum eine, auf der nicht Soldaten mit Waffen und Panzern abgebildet sind. Der Ort ist für viele zu einem zweiten Wohnzimmer geworden. Es gibt Kurse, Konzerte, Lesungen, aber auch Platz für individuelle Aktivitäten.

Hier hat auch die Journalistin Irina Sadowa ihren Arbeitsplatz. Sie lebt seit 2012 in Butscha und betreibt das Webportal Bucha.life, eine Plattform für Nachrichten und Informationen aller Art aus und über Butscha. Viele Blog­ge­r*in­nen sind dort aktiv. Jetzt möchte Sadowa das Portal optimieren, wenn möglich auch in Zusammenarbeit mit NGOs. „Wir wollen keine starke Vertikale wie in Russland, wo Informationen von oben nach unten durchgereicht werden, wir wollen die Horizontale ausbauen“, sagt die 58-Jährige bestimmt.

Mychailyna Skorik-Schkariwska, Vizebürgermeisterin

„Wer will schon an einem Ort der Tragödie wohnen, so wie Tschornobyl?“

Sie selbst hatte Butscha am 9. März 2022 verlassen und ist erst ein halbes Jahr später, im vergangenen September, zurückgekehrt. „Als das alles begann, war klar, dass die Erde brennen würde. Und dass wir die Ukraine verteidigen würden. Niemand würde sich unterordnen. Das hat Putin nicht verstanden“, sagt Sadowa. Und jetzt? Die Menschen hätten zu schätzen gelernt, was sie haben – aber eine Rückkehr zum Vorkriegszustand wolle niemand. Alle hätten jetzt den Wunsch, eine ganz neue Stadt aufzubauen. Ihr Sohn sei derzeit beim Militär, sagt die Journalistin noch und fügt hinzu: „Ich habe schreckliche Angst um ihn.“

Unweit des Gebäudes stehen in einigem Abstand hintereinander mehrere Plakate mit Sternen, einem Engel und einem Weihnachtsmann – beste Wünsche der Kommune Butscha für die Ein­woh­ne­r*in­nen zum Jahreswechsel 2021/22. Der Slogan in grüner Schrift lautet: „2022 – jetzt fängt alles erst an.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.