Özil und der Multi-Kulti-Fußball: Die grün-liberale Märchenstunde

Mesut Özil beendet seine Fußballkarriere, die One-Love-Binde auch. Es ist Zeit, mit alten Projektionen aufzuräumen.

Mesut Özil jubelt mit ausgebreiteten Armen

Wenn Mesut Özil traf, war Deutschland Integrationsweltmeister Foto: Martin Meissner/ap

Es ist bloß Zufall und doch ein interessantes Zusammentreffen, diese beiden Geschehnisse in der gleichen Woche. Mesut Özil, einer der größten deutschen Fußballer der Geschichte, beendet seine Karriere. Zu einem Zeitpunkt, an dem viele vergessen haben, dass er überhaupt noch spielte, seit dem Erdoğan-Foto ist er ja im Prinzip ausgebürgert. Just zur selben Zeit erklärte der DFB die One-Love-Binde zum unerwünschten Stück Stoff und kehrt zu den Nationalfarben zurück. Zwei deutsche Sündenböcke also gehen.

Özil wird zwar nun verspätet für seine klugen Pässe und sein zartes Spiel gefeiert, aber in Zukunft eher nicht neben Basler oder Schweinsteiger in die Sendeanstalten dieser Republik eingeladen werden oder in einer deutschen Jahrhundertelf stehen.

Zur One-Love-Binde indessen hatte Flick zu sagen, was ähnlich schon über Özil formuliert worden war: „Es darf nicht noch mal so sein, dass diese Dinge im Fokus stehen, sondern die Mannschaft sollte einfach Fußball spielen.“ Längst lautet eine unausgesprochene Deutung des DFB, dass die deutschen Männer nun zweimal wegen „Politik“ ausschieden: Einmal war der Türke schuld, einmal die Homos.

Dieser neue intellektuelle Tiefpunkt in der sowieso atemberaubend einfältigen Fußball­aufarbeitung sagt viel über das Politikverständnis des deutschen Fußballs. Als „Politik“ gilt der DFB-Elite nicht das Politische, sondern das vorgeblich Abnormale. Die ständigen Fragen nach Özils echter Heimat, den Inte­gra­tions­bambi oder die Vereinnahmung durch Angela Merkel monierte niemand.

Anders gesagt: Wo Vereinnahmung keine Kontroverse produziert, ist sie „einfach nur Fußball“; erst die Kontroverse gilt als störende „Politik“. Und natürlich stört „Politik“ nur bei Niederlagen. Als die deutschen Frauen mit der Regenbogenbinde ins EM-Finale kamen, schmückte man sich gern mit dem Vielfaltssymbol.

Es wäre verlockend, all das nun als konservativen Backlash nach der Reformära Löw zu interpretieren. Doch die erfordert eine Neuanalyse. Seit 2006 gefällt sich das deutsche Feuilleton darin, weltpolitische Thesen in die Löw’sche Epoche zu lesen. Klinsmann/Löw galten da als Wegbereiter eines neuen Multikulti-Deutschlands, als Pendant zum politischen Aufstieg der Grünen oder gleich zur Ära Merkel, als Abschaffer des Hierarchie- und Männlichkeitskults. Das meiste davon ist nai­ve Projektion. Dass Löw einen wie Özil in den Kader berief, war weniger dem Antirassismus geschuldet als schlicht Common Sense.

Überfällige Entwicklung

Im Gegenteil lässt sich an der Nichtbeachtung etwa Leroy Sanés für die WM 2018 argumentieren, dass Spieler of Color es weiter schwerer haben als ein in jeder Lebenslage berufener Thomas Müller. DFB-„Multikulti“ war bloß eine überfällige Entwicklung, die in anderen Nationen zehn Jahre früher vollzogen war. Und für die These vom grün-liberalen Trainerteam gibt es keinen Beleg.

Mit zeitlichem Abstand bröckelt die große Projektion: Klinsmanns Denkmal ist längst demoliert, Hansi Flick schimpfte nach der Katar-WM über Themen, die „der Mannschaft aufgedrückt werden“. So hysterisch tatsächlich die Katar-Debatte verlief, so viel sagt es dennoch über Flicks Politikverständnis. Und Ex-Torwarttrainer Andy Köpke irritierte mit einer Schimpftirade über Gendersprache.

Die politische Modernisierung des deutschen Männerfußballs ist dort, wo sie geschah, eher auf Spieler – Neuer, Goretzka, ja, auch den immer politischeren Özil – oder den Funk­tio­när Theo Zwanziger zurückzuführen als auf Löw/Klinsmann. Nun tritt mit Özil einer der wenigen wahrhaft globalen Stars aus Deutschland ab. Bei den deutschen Männern indes soll es 2024 wieder ein Sommermärchen geben. Wie viel sich verändert hat, ist spürbar an den überraschten Reaktionen vieler Durchschnittsdeutscher: „Wie, nächstes Jahr ist Heim-EM?“ Das Bild vom DFB hat sich verändert. Es ist ein Stück realistischer geworden.

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Jahrgang 1991, studierte Journalismus und Geschichte in Dortmund, Bochum, Sankt Petersburg. Schreibt für die taz seit 2015 vor allem über politische und gesellschaftliche Sportthemen zum Beispiel im Fußball und übers Reisen. 2018 erschien ihr Buch "Wir sind der Verein" über fangeführte Fußballklubs in Europa. Erzählt von Reisebegegnungen auch auf www.nosunsets.de

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