Oper „Dog Days“ in Braunschweig: Begehren ist ein Schlachtfeld

Nach einer Katastrophe hockt eine Familie isoliert aufeinander, ein anziehender Fremder kommt hinzu – wie könnte das gut ausgehen?

Immer droht den Figuren die Einsamkeit Foto: Thomas M. Jauk/Stage Picture

BRAUNSCHWEIG taz | Das eigene Verhalten schützend eingehegt ins Regelwerk zivilisatorischen Miteinanders, das ist für russische Kriegs­ver­bre­che­r:in­nen und ihre weltweit agierenden Kol­le­g:in­nen ein Tabu, für die meisten Menschen aber der moralisch wohlige Grund einer soliden Identitätskonstruktion. Wer diese Basis verlässt, verliert daher auch sich selbst.

Wie es dazu kommen kann, zeigt die Kurzgeschichte „Dog Days“ der US-amerikanischen Autorin Judith Budnitz. Den Entgrenzungsfuror der Frage, wer wir sein könnten, versucht Komponist David T. Little – zum Libretto von Royce Vavrek – mit seiner Opernfassung hörbar zu machen.

So was kann kein gemütlicher, erbaulicher Abend werden – aber ein faszinierendes Statement zeitgenössischen Musiktheaters gelingt Regisseur Balázs Kovalik mit „Dog Days“ am Staatstheater Braunschweig. Höchst erfreulich auch, dass der herausfordernde Stoff trotz vorhersehbar geringem Publikumsinteresse nicht für eine kleine Spielstätte heruntergerechnet wurde, sondern opulent im Opernhaus gefeiert wird.

Eine zweistöckige Wohnung ist dort als verschachtelter Rohbau in Beton-Anmutung von der Bühne quer über den Orchestergraben gebaut. Darin haust eine von Armut zerfressene US-Familie mit ihrem Lieblingsfetisch, dem Auto, und pflegt eine derbe, gern mal mit „Fuck!“ garnierte Kommunikation. Begegnungen finden allerdings nur noch beim täglichen Ritual statt, „fahle Krümel“ zu verspeisen. Gemeint sind damit Unmengen von Möhren aus Dosen, die aus Care-Paketen stammen, die ein Hubschrauber abwirft. Bleibt er aus, gibt es lediglich Löwenzahn aus dem Garten.

„Dog Days“: wieder am So, 26. 3., Do, 13. 4., Sa, 13. 5., Braunschweig, Staatstheater

Die fünf Familienmitglieder kämpfen ums Überleben, warum, wird nicht eindeutig geklärt. In der endzeitlich aufgeladenen Geschichte ist von einem Krieg die Rede, der immer näher komme, auch von Nachbarn, die weggezogen oder gestorben seien, von geflüchteten Tieren. Deswegen hocken die Familienmitglieder ohne Außenkontakt aufeinander, isoliert voneinander.

Die Stimmung ist sehr gereizt. Alle vibrieren in ihren angelernten Rollenmustern. Todessehnsüchtig versinkt die Mutter (mit stoisch strahlendem Sopran: Ivi Karnezi) in der Haushälterinfunktion. Die Söhne, Pat (Matthew Peña) und Elliot (Fritz Steinbacher) kiffen gegen Depression und Zukunftslosigkeit an. Vater Howard (Michael Mrosek) will in baritonaler Fulminanz weiterhin den rastlosen Patriarchen geben, donnert auch mit jämmerlichem Stolz und strenger Wut autoritär herum, ist aber entmutigt, weil er als Ernährer versagt.

Schließlich sind nirgendwo mehr Tiere zum Erschießen oder sonstige Lebensmittel zu finden. „Seine Augen – zwei verlorene Flecken“, so beschreibt Tochter Lisa den Vater und erzählt, dass er nachts leise weint. Tagsüber versteckt Howard seinen Frust hinter trotzigem Lächeln, flüchtet sich ins Autopolieren. Sägende Streicherklänge vermitteln, dass die Grenzen seiner Persönlichkeit zum Bersten wund sind.

Im Fokus aber steht, eben, Lisa, von Veronika Schäfer mit kraftvollem, verzweifelt lebensbejahendem Sopran gestaltet. Chat-Nachrichten an längst verstorbene Freundinnen schickt sie und träumt präpubertär von einem sie erlösenden Prinzen, der in Gestalt eines „abstoßenden und süßen“ Hundes auftaucht: Tatsächlich ist’s ein Obdachloser, der wie ein Hund um Nahrung bettelt; Steffen Recks in der lauernd stummen Rolle kreatürlicher Not. „Prince“ nennt Lisa ihren neuen Spielkameraden, ist zudem angezogen von der erotischen Virilität seines durchtrainierten Körpers.

So ergeht es auch der völlig erschlafften Mutter: Vom Hundemann lässt sie sich ins Bett tragen, ersehnt deutlich mehr und muss resigniert ihr Leben rekapitulieren: 20 Jahre lang etwas aufgebaut zu haben, „was der Krieg in Tagen, Minuten, Sekunden kaputtmacht“.

Krieg herrscht, akustisch, von Anfang an: Aus den Lautsprechern tönt ein harter, klarer, elektrisch verstärkter und immer mal wieder geräuschhaft verzerrter, dunkel ins Chaos drängender Horrorfilm-Soundtrack. Vehemente Perkussion treibt die kammermusikalischen Vernetzungen des neunköpfigen Orchesters an, besetzt mit Streichern, Klarinette, Klavier, Synthesizer, Schlagwerk, E-Gitarre und Kontrabass. Das chronische Gefühl drohenden Schreckens vermittelt sich mit morbider Intensität, was auch mal in herrlichem Lärm kulminiert (Musikalische Leitung: Alexis Agrafiotis). Hochdramatische Power auf Dauer.

Für seinen frisch klingenden Eklektizismus nutzt Komponist Little klangfantasievoll die Möglichkeiten neuer und klassischer Musik, von Opern und Broadway-Musicals, gönnt den Sän­ge­r:in­nen anmutige Melodiosität und serviert all das mit der Dynamik des Heavy Metal. Schließlich betont er in Interviews, mit Napalm Death aufgewachsen zu sein und in Rockbands getrommelt zu haben.

Die Figuren kämpfen vergeblich um Zusammenhalt. Chorisches Singen gelingt ihnen bald nicht mehr. Überall dräut Einsamkeit. Besonders eindringlich, als Lisa vorm Spiegel steht und ihre dem Nahrungsmangel geschuldete Model-Dürre zur Erfüllung eines Idealkörpertraums glorifiziert – ach, diese „Wangenknochen, die wie Felsbrocken aus einem weißen Sandstrand ragen“. Die Mutter wäscht den geschundenen Körper des Hundemannes wie einen Leichnam und gleitet still in den Tod.

Zermürbt von den Entbehrungen, delirieren die Mannsbilder vor sich hin, zunehmend in Zeitlupe zu ebenso gedehnter Musik. Bis die Jungs als Nachwuchskräfte und Howard als Protagonist der Macho-Männlichkeit ihr Machtbedürfnis bestialisch gegen den Hundemann ausleben, dabei ihre menschliche Würde und damit sich selbst verlierend. Ein nervenaufreibend packendes Finale mit anschwellendem Brummen, Jaulen, Dröhnen und metaphysischem Orgeln. Der Entsetzensblick des zu Tode geschundenen Hundes verabschiedet als gigantische Videoprojektion die Zuschauer:innen.

Die langsam und sehr leise zu Applaudieren beginnen, mitgenommen von der Botschaft: Kommt es hart auf hart, kann der Mensch vertieren. Keine neue Erkenntnis, aber traurig aktuell.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.