Nach den Schüssen auf Zeugen Jehovas: Die Waffen nieder?

Nach den tödlichen Schüssen auf Zeugen Jehovas in Hamburg wird übers Waffenrecht diskutiert. Die Fronten sind verhärtet – mal wieder.

Blumen und ein SChild auf dem geschrieben steht "Trauer und Wut über das fehlende Waffenverbot"

Auch am Tatort in Hamburg fordern Trauernde eine Verschärfung des Waffenrechts Foto: Jonas Walzberg/dpa

HAMBURG taz | Die Werbung prangt gleich auf der Startseite des Hanseatic Gun Club. „Der Weg zur eigenen Waffe ist nicht so dornenreich, wie es anfänglich scheinen mag“, wirbt der Schützenverein, der unweit der Hamburger Binnenalster liegt. Natürlich sei auch „ein hohes Maß an persönlicher Integrität“ nötig. Im Club aber könne man „in seriösestem Umfeld diskret den Umgang mit Großkaliber-Kurzwaffen erlernen oder professionalisieren“.

Die Werbung klingt heute schal. Denn bis vor gut einer Woche war im Hanseatic Gun Club auch ein 35-jähriger Hamburger aktiv, der vorgab, nur drei Gehminuten entfernt als Unternehmensberater zu arbeiten: Philipp F. Der Mann, der in einer lokalen Gemeinde der Zeugen Jehovas sieben Menschen erschoss und danach sich selbst. Der bis vor anderthalb Jahren selbst zur Gemeinde gehörte – und seit Dezember als Sportschütze legaler Waffenbesitzer einer Pistole war, einer halbautomatischen Heckler&Koch P30.

Nun wird wieder über das Waffenrecht gestritten. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) pocht auf einen Gesetzentwurf für eine Verschärfung, den sie schon im Januar vorlegte – und den die FDP bis heute blockiert. Auch SPD und Grüne sind dafür, Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) ebenso. Schützenverbände dagegen laufen Sturm.

In seinem Buch sinnierte Philipp F. über Gott und Hitler

Tatsächlich müssen sich der Hanseatic Gun Club und Hamburgs Waffenbehörde einige Fragen stellen lassen. 2021 hatte sich Philipp F. in dem Schießverein registriert, im Dezember 2022 dann hatte ihm die Hamburger Waffenbehörde seine Pistole genehmigt. Schon im Januar warnte indes ein anonymer Hinweisgeber die Waffenbehörde, F. sei wohl psychisch krank und habe eine „besondere Wut“ auf die Zeugen Jehovas und seinen früheren Arbeitgeber. Die Waffenbehörde schickte darauf zwei Beamte zu einer unangemeldeten Kontrolle – die außer einer herumliegenden Patrone aber nichts beanstandeten.

Da jedoch hatte Philipp F. bereits ein wirres Buch auf Amazon veröffentlicht, knapp 300 Seiten, wo er über „Gott, Jesus und Satan“ sinnierte, über Hitler und Putin oder Massenmord im Auftrag Gottes. Laut Hamburgs Polizeipräsident Ralf Martin Meyer fand die Waffenbehörde das Buch aber trotz Hinweis des Tippgebers und Google-Suche nicht – was der Behörde heftige Kritik einbrachte.

Beim Hanseatic Gun Club taucht man derweil ab. Nach Philipp F. gefragt sagt Geschäftsführer Alfred Reinecke, Anwalt für Waffenrecht und selbst Jäger und Sportschütze, immer wieder nur „kein Kommentar“ und am Schluss „Danke für Ihre Fragen!“. Dabei wäre es durchaus relevant, ob F. nicht auch in dem Club Auffälligkeiten zeigte und ob er dort Kontakte pflegte wie in einem herkömmlichen Schützenverein, wodurch ein Mindestmaß an sozialer Kontrolle entsteht. Der kommerzielle Hanseatic Gun Club, eine Mischform aus Verein und GmbH, ermöglicht indes gegen Gebühr auch anonymes Schießen, auch für Nicht-Mitglieder ohne Waffenschein.

Dabei galt zumindest die Hamburger Waffenbehörde mal als Vorreiter. In den Nullerjahren hatte der Stadtstaat die waffenrechtlichen Aufgaben aus 19 Polizeidienststellen zu einer Behörde fusioniert. Deren Mit­ar­bei­te­r:in­nen – auf derzeit 26 Stellen – haben Waffenkunde in der Polizeiausbildung gelernt und machen nichts anderes, als sich von früh bis spät mit Waffen zu befassen.

„Damals waren die bundesweit Spitze“, sagt der Hamburger Waffensachverständige und Journalist Lars Winkelsdorf, der 2009 einen Vergleich der damals bundesweit 570 Waffenbehörden anstellte. Vize-Behördenchef Niels Heinrich habe etwa die Waffennachweisdatei WANDA geschaffen und schon im Regelbetrieb mehr Waffen aus dem Verkehr gezogen, als das Amnestien später konnten. Doch Heinrich wechselte 2012 ins Bundesinnenministerium, um das Nationale Waffenregister aufzubauen. „Seitdem bröckelt es“, sagt Winkelsdorf. Die Behörde mache heute Fehler, die sie früher nicht gemacht hätte. Vor allem digital sei sie unterbelichtet. „Für die ist dies Internet so ein neues Ding.“ Auch Winkelsdorf hat kein Verständnis dafür, dass die Beamten das Buch von Philipp F. bei ihren Recherchen nicht fanden.

Bei vielen der anderen 537 Waffenbehörden in Deutschland sieht es nicht besser aus. Oft sind sie bei Kreisverwaltungen angesiedelt, die eine Vielzahl weiterer Aufgaben haben. Sie müssen sich um die bundesweit 946.495 Privatleute kümmern, die derzeit gut 5 Millionen registrierte Waffen besitzen – zumeist Jäger oder Sportschützen. Das sind auch viele der Kontrolleure: In ländlichen Regionen muss im Landratsamt meist der Kollege ran, der überhaupt etwas von Waffen versteht. Der kennt seine Kundschaft dann häufig gut, manchmal auch zu gut, um ihr streng auf die Finger zu schauen. Von polizeilichen Gefahreneinschätzungen hat er nicht zwingend Ahnung.

Nur 216 Waffenkontrollen im Jahr 2022 in Hamburg

Wie löchrig die Kontrollen ausfallen, zeigen schon die Zahlen. So zählt Hamburg 8.145 Waffenbesitzende mit 37.830 Waffen – bei denen im vergangenen Jahr gerade mal 216 Kontrollen durchgeführt wurden. 2020 waren es noch 665, dazwischen kamen die Kontrollen wegen der Coronapandemie ganz zum Erliegen. Dass eine Kontrolle im Fall Philipp F. erfolgte, ist also schon bemerkenswert.

Kay Ruge, Vizegeschäftsführer des Deutschen Landkreistags, beklagt, dass auch bundesweit nach seinen Rückmeldungen die Waffenbehörden „derzeit sehr belastet“ seien. Die Folgen sind fatal: So besaßen Ende 2021 selbst 1.561 Rechtsextremisten und rund 500 Reichsbürger laut Bundesinnenministerium noch waffenrechtliche Erlaubnisse. Hamburgs Polizeipräsident Meyer wird dieser Tage nicht müde zu betonen, dass Waffenentzüge rechtlich enge Grenzen haben und konkreter Hinweise auf eine Unzuverlässigkeit bedürfen.

Auch deshalb will Faeser nun ihre Gesetzesverschärfung, die selbst CSU-Innenminister Horst Seehofer schon anstrebte, der letztlich an der eigenen Fraktion scheiterte. Faeser pocht nun auf eine generelle Pflicht, bei Anträgen auf Waffenerlaubnisse ein ärztliches oder psychologisches Zeugnis vorzulegen – bisher gilt dies nur für Unter-25-Jährige. Zudem sollen sich die Waffenbehörden nun auch mit Gesundheitsämtern austauschen und „kriegswaffenähnliche“ halbautomatische Feuerwaffen verboten werden.

Es wäre nicht die erste Verschärfung. Seit dem Amoklauf in Erfurt 2002 wurden das Mindestalter für den Schusswaffenerwerb auf 18 Jahre angehoben, Auflagen für Aufbewahrungen erteilt, unangemeldete Kontrollen eingeführt oder Abfragen beim Verfassungsschutz. Heute gilt das deutsche Waffenrecht europaweit als eines der strengsten.

Schützenverbände vehement gegen schärferes Gesetz

Jede Verschärfung war begleitet vom Protest von Schützen- und Jagdverbänden. Wie auch jetzt. „Es ist nicht angemessen, rechtstreue Besitzer legaler Waffen für die Untaten von Verrückten und Verbrechern in Mithaftung zu nehmen“, beklagt sich Friedrich Gepperth, Präsident des Bund Deutscher Sportschützen. Die Tat in Hamburg wäre auch mit der geltenden Gesetzeslage zu verhindern gewesen – wenn die Waffenbehörde nach dem Hinweis sofort den Schießclub und einen Psychologen eingeschaltet hätte. Und mit seinem Hass auf die Zeugen Jehovas hätte Philipp F. seine Tat wohl auch mit anderen Mitteln begangen, glaubt Gepperth. Nicht viel anders klingt das dieser Tage bei der FDP: Auch dort sieht man ein „Vollzugsproblem“, keines im Gesetz.

In Hamburg hätte Faesers Plan aber zumindest in einem Punkt helfen können: Wenn Philipp F. für seinen Waffenantrag ein psychologisches Gutachten hätte einholen müssen. Hier zeigt sich auch die Gewerkschaft der Polizei offen. „Was spricht dagegen, im Waffenrecht die Prüfung der psychischen Gesundheit künftiger und jetziger Waffenbesitzer intensiver unter die Lupe zu nehmen?“, fragt deren Vorsitzender Jochen Kopelke. Auch sei ein Behördenaustausch sinnvoll – ebenso wie die Idee, Waffen nicht mehr privat, sondern in den Vereinen zu lagern. Hier wiederum wendet die FDP ein, dass das zentrale Waffenlager schaffen würden, die auch ein Risiko seien.

Auch Kay Ruge vom Landkreistag zeigt sich indes offen für ein schärferes Waffenrecht. Verbote besonders gefährlicher Waffen etwa seien richtig, sagt er der taz. Standardmäßige psychologische Gutachten dagegen sehe er kritisch. Diese seien nur eine „Momentaufnahme“ und schon heute würden Waffenbesitzende eingehend geprüft. Es gelte bei allen Plänen „stärker auf die tatsächliche Umsetzbarkeit für die Waffenbehörden vor Ort“ zu achten, fordert Ruge. „Jedem muss klar sein, dass erneut verstärkte Prüfungen natürlich auch mehr Personal erfordern.“ Das Problem: Auch die FDP und ihr Bundesfinanzminister haben hier bisher keine Gelder für die Waffenbehörden versprochen.

Die Grünen wollen dagegen laut jüngsten Wahlprogramm sogar die Verfügbarkeit von tödlichen Schusswaffen gänzlich „schrittweise beenden“, außer für Jäger:innen. Im Sport solle auf „nichttödliche Schusswaffen“ umgestellt werden. Auch das lehnen die Schützenvereine vehement ab. „Das wäre das Endes des Schießsports“, empört sich Lobbyist Gepperth. Und so tut sich vorerst absehbar nichts.

Bliebe, dass im Fall Hamburg die Waffenbehörde auch so womöglich acht Tote hätte verhindern können: mit einer ordentlichen Internetrecherche. Hätte man das Buch von Philipp F. gefunden, räumt Polizeipräsident Meyer ein, wäre ein Gutachten zu dessen psychischer Verfassung möglich gewesen – und am Ende womöglich ein Waffenentzug.

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