„Wenn Sie hier nicht rumschreien wollen, müssen Sie sich einen anderen Job suchen“

Praxiserfahrung neben dem Lehramtsstudium sammeln: So erfuhr unsere Autorin hautnah, was Lehrerkräftemangel bedeutet und Schule als schnelllebiges Geschäft

Fünf Stunden betreutes Kickern statt Unterricht, und die Schule hat keine Fehlstunden auszuweisen Foto: YAY Images/imago

Von Teja Häuser

Lehrkräftemangel? Nicht mit mir! Montagmorgen 7.30 Uhr, fröhlich aufgeregt betrete ich das Sekretariat meiner neuen Arbeitsstelle: eine ganz gewöhnliche Grundschule in Berlin-Friedrichshain.

„Oh, Ihr Stundenplan ist noch nicht fertig.“ Während ich warte, lerne ich schon mal ein paar meiner neuen Kol­le­g*in­nen kennen, die am vollen Vertretungsplan ihre handgeschriebenen Zettelchen einsammeln, auf denen steht, wo sie heute gebraucht werden. Ein erster Eindruck des Chaos, das mich in den kommenden Monaten erwarten wird.

Als frische Personalkostenbudgetierungskraft, kurz PKB-Kraft, sammle ich hier Praxis­erfahrungen neben meinem Lehramtsstudium. Ich unterrichte alle Klassen, also erste bis sechste, in allen Fächern. Wo und wen genau, erfahre ich jeden Morgen am Vertretungsboard, was, überlege ich mir jedes Mal spontan.

Die Kinder begreifen meine Unterrichtsstunden als Spielstunden: „Vertretung? Da können wir eh machen, was wir wollen.“ Auf meinem Plan steht heute Mathe: In der 3c, danach Englisch in der 4a und schließlich eine Doppelstunde Kunst in der 5b. Ich betrete den Raum, während ein Schüler herumpöbelt: „Scheiß Kunst! Diese Kack-Schule.“ Ihm stinkt’s. Die anderen Kinder stimmen mit ein – ein Kräftemessen der Schimpftiraden beginnt. Je aggressiver und obszöner, desto besser. Zwischendrin immer mal wieder eine Booty-Dance-Einlage eines Schülers. Was für eine Show! Ich stehe da mit einer Klangschale und zweifle daran, dass sich hier mit pädagogischen Methoden, die mir noch gar nicht geläufig sind, wirklich Ordnung ins Chaos bringen lässt.

Ich suche Rat bei der Klassenlehrerin, die allerdings nur für zwei Monate befristet angestellt ist. Sie erklärt mir, dass die Klasse bereits sehr viele wechselnde Leh­re­r*in­nen hatte und daher etwas schwierig sei. Ich treffe dann auf einen Schüler mit sehr ausgeprägtem Autismus-Spektrum, einen mit Tourette-Syndrom, einen emotional sehr instabilen Schüler, der manchmal plötzlich anfängt zu weinen und zwei Stunden lang nicht aufhört, und eine schwer Depressive. Ein Schüler, der ein besonders auffälliges Verhalten zeigt, hat gar keine Diagnose, das möchten die Eltern nicht.

Einen Monat später habe ich einen neuen Stundenplan in meinem Fach liegen. Bis auf die Lernbüro-Stunde und den Deutsch-als-Zweitsprache-Unterricht bin ich nun mit allen Stunden in die „CZ“ eingeteilt. Eine völlig neue Regelung: Alle Klassen, deren Unterricht ausfällt, dürfen nun in der Chill-Zone abhängen. Ich betreue nun gemeinsam mit einer Erzieherin manchmal drei Klassen gleichzeitig in der „CZ“. Besonderes Highlight: ein Kicker! Allerdings muss der möglichst leise bespielt werden, sonst wird der Ball einkassiert. Wenn ich an so manche Kneipenabende denke, erscheint mir das irgendwie widersprüchlich. Nun gut. Also fünf Stunden kickern statt Unterricht, und die Schule hat keine Fehlstunden auszuweisen, denn die Kinder sind ja betreut. Dit is Berlin!

Einen knappen Monat später wird mir der Vorschlag unterbreitet, zwei fünfte Klassen in Kunst zu unterrichten, also in meinem eigentlichen Studienfach und meiner Kernkompetenz. Die beiden Klassen sind besonders schwierig. „Daran können Sie wachsen! Wir verlängern auch Ihren Vertrag.“

Ein Kräftemessen der Schimpftiraden beginnt. Je aggressiver und obszöner, desto besser

Endlich kann ich mich hier wirklich sinnvoll einbringen. Und zum Glück bringe ich schon etwas Erfahrung durch meine Tätigkeit an einer Jugendkunstschule mit. Los geht’s. Konzept entwickelt, Stunden geplant und wieder stehe ich da mit einer Klangschale in der Hand. Ein Schüler kommt mir zu Hilfe: „Wenn Sie hier nicht rumschreien wollen, müssen Sie sich einen anderen Job suchen.“

Wahrscheinlich hat er recht. Und ich möchte ja an der Herausforderung wachsen: Ich recherchiere, frage Kolleg*innen, trainiere meine Unterrichtspräsenz und schaue mir Videos über ein gelingendes Classroom-Management an. Zeichensprache, Belohnungssystem, Ampel – so viele Methoden, mir brummt der Kopf, doch mir gelingt eine super Unterrichtsreihe. Die Kinder strahlen, ich bin begeistert: Wow! Eine Schülerin kommt auf mich zu: „Bekommen wir jetzt eine Murmel?“ Geduldig lasse ich mir ihr System erklären und bin bereit, drei von vier möglichen Murmeln, da es mit dem Aufräumen dann doch noch nicht so gut geklappt hat, von einem Glas in ein anderes zu füllen. Alle sind zufrieden. Auf meine Nachfrage, was sie denn schließlich mit dem vollen Glas Murmeln machen würden, entgegnen mir die Schüler freudestrahlend: „Wir wünschen uns, als Klasse in der Schule zu übernachten!“ Ich überlege mir ernsthaft, welche Leh­re­r*in ihnen diesen Wunsch wohl erfüllen würde.

Mein Vertrag nähert sich dem Ende, die Schulleitung bittet mich zum Gespräch: „Schule ist ja bekanntlich ein schnelllebiges Geschäft. Leider können wir Ihren Vertrag nicht verlängern, es fehlt uns das Geld. Zudem haben wir für Sie ja auch eine Ausbildungsverantwortung, die wir im Moment leider nicht gewährleisten können. Und zusätzlich kommen zwei Lehrerinnen aus dem Sabbatjahr zurück.“ Eine andere PKB-Kraft, deren Vertrag auch nicht verlängert wurde, erzählt mir, dass dies nun schon ihre fünfte Schule sei. „Nach ein paar Monaten besteht kein Bedarf mehr, dann suche ich mir wieder eine neue Schule.“