Die Wahrheit neu erfinden

„Es ist an uns, zu sagen, wer wir sind und was wir wollen“: Beim Festival „In Transit“ diskutierten Choreografen, Tanzhistoriker und Journalisten über die Macht der Definition der Moderne und ein neues Bild vom zeitgenössischen afrikanischen Tanz

VON ASTRID HACKEL

„Heute bin ich frei genug zu sagen: Ich kümmere mich nicht um Afrika – Afrika kümmert sich nicht um mich“, sagt Faustin Linyekula, junger Choreograf und Gründer der in Kinshasa ansässigen Studios Kabako. Er sieht seine Modernität darin anzuerkennen, dass er in einem kolonialen Staat lebt, und meint selbstbewusst: „Es ist an uns, zu sagen, wer wir sind und was wir wollen.“ Im Haus der Kulturen der Welt stellte Faustin Lineykula in der offen angelegten Performance-Installation „Le Festival des Mensonges“ die historisch-politische Ebene in Form von Radiostimmen kongolesischer Machthaber, Geschichten aus dem Alltag Kinshasas und abstrakte Bilder wie die Teile eines zerbrochenen Spiegels zusammen. In der Tradition des story telling zeichnete er damit ein Stimmungsbild seiner eigenen Realität als Autor und Choreograf. Der Titel – Festival der Lügen – ist nicht ironisch gemeint, sondern bezieht sich auf eine fragile Gegenwart. In einem Land, dessen Namen beständig wechseln, wird, wer gestern noch die Wahrheit sprach, heute mitunter der Lüge bezichtigt. Linyekula setzte die Notwendigkeit, in dieser Situation eine eigene Haltung zu definieren, in Bewegung um – eine Haltung, die morgen schon neu erfunden werden will.

Obwohl der afrikanische Kontinent mit Choreografien von Faustin Linyekula, Seydou Boro, Kettly Noël, Aicha M’Barek, Hafiz Dhaou u. a. beim diesjährigen „In Transit“ im Haus der Kulturen der Welt stark vertreten war, wollte Koffi Kôkô, einer der drei Kuratoren des Festivals, nicht von einem Schwerpunkt Afrika sprechen. Einer der Gründe mag sein, dass die meisten der Künstler Pendler zwischen den Welten sind. Zum Teil leben sie in Kinshasa oder Burkina Faso, zum Teil in London oder Paris.

Entscheidend aber ist, dass Afrika in diesem Sinne gar nicht existiert. Diese Erkenntnis musste man auf der begleitenden Konferenz zur Frage: „Gibt es überhaupt einen zeitgenössischen Tanz in Afrika?“ gewinnen. Hier zeichnete sich der Unmut der Teilnehmer darüber ab, dass eine Reihe abstrakter und vager Vorstellungen von Afrika fortbesteht, genauso wie die ungebrochen hartnäckigen Klischees von schwarzen vitalen Körpern und typischen Baströckchen. Die afrikanischen Länder sind so unterschiedlich wie die europäischen, und dennoch wird hier immer wieder nach einem universalen Tanzkonzept gefragt.

Die nigerianische Choreografin und Tanzhistorikerin Funmi Adewole betonte, dass es gegenwärtig so gut wie keine Publikationen zum afrikanischen Tanz gebe, womit eine wichtige Voraussetzung für den Diskurs fehlt. Das Vokabular kommt von außen. Das Label „zeitgenössisch“ ist ein westliches, genauer gesagt französisches Importprodukt. Die in Frankreich lebende Journalistin Ayoko Mensah ging auf den massiven Einfluss der dem französischen Außenministerium unterstehenden Association Française d’Action Artistique (AFFA) ein, die seit 1995 mit hoch dotierten Wettbewerben Impulse für die Entstehung des so genannten zeitgenössischen Tanzes in Afrika gegeben hat. Der Begriff beschreibt somit keine Kontinuität landesimmanenter Entwicklungen, sondern manifestiert, von außen auferlegt, einen Bruch mit dem kulturellen Erbe. Viele bis dahin unabhängige Künstler sahen die von der AFFA organisierten Wettbewerbe als Chance, ihre miserablen Arbeitsbedingungen gegen eine Karriere im Westen einzutauschen, und ahmten in der Hoffnung auf Erfolg westliche Stile nach.

Der in London lebende Choreograf und Performance-Spezialist Peter Badejo sieht das als eine Form der Neokolonialisierung: „Es ist eine Illusion zu glauben, wir Afrikaner seien emanzipiert. Wir sind heute immer noch Objekte, die bloß imitieren, was sie im Westen sehen.“ Bevor über zeitgenössischen afrikanischen Tanz gesprochen werden könnte, stünden andere Fragen an. Afrikanische Künstler müssten zunächst anfangen, sich selbst zu respektieren. Und sie müssten aufhören, das wichtigste Ziel darin zu sehen, im Westen aufzutreten.

Die jungen Choreografen auf dem Podium, wie Faustin Linyekula und Seydou Boro, sind bereits dabei, diese Forderungen in die Tat umzusetzen. Was Seydou Boro, der in Burkina Faso und Frankreich lebt, zu sagen hat, erfährt man aus seinen Stücken. In dem Solo „C’est à dire“ erzählte der Musiker, Choreograf und Filmemacher seine persönliche Geschichte und verband sie mit Reflexionen über westliche Klischees und Konzepte zeitgenössischer Kunst. Auch vom traditionellen Tanz wusste er im Unterschied zum afrikanischen eine Geschichte zu erzählen: „Der traditionelle Tanz ist ein Tanz hinter einer Tür, die man verschlossen hat. Und der Schlüssel ist heruntergefallen. Deshalb bleibt der Tanz da, wo er ist.“ Seydou Boro illustrierte seine Erzählungen mit slapstickähnlichen Bewegungen und kehrte damit das klassische Verständnis vom stummen Tanz um.

„In Transit“ endet mit: Fr. 20.30 Uhr, Kettly Noël aus Mali, im Haus der Kulturen der Welt; Dónde estaré esta noche?, Gastspiel Mexiko, 20 Uhr, Haus der Berliner Festspiele