Techno-Produzent Kassem Mosse: Erschöpft und entgrenzt

Der Leipziger Gunnar Wendel alias Kassem Mosse meldet sich mit seinem Album „workshop 32“ zurück. Es ist das klandestine Rauschen des Undergrounds.

Gunnar Wendel alias Kassem Mosse im Halbschatten an einer Wand

Leipzig's finest: Gunnar Wendel aka Kassem Mosse Foto: Ilayda Dagli

Der Gedanke war, dass man sich fragt: Warum ist das so gekommen, wie es jetzt ist, und nicht anders? Und sich dann überlegt: Was hätte ich anders machen können? Oder: Was ist das Andere, wozu es vielleicht nicht gekommen ist, und was kann ich noch tun, damit ich es vielleicht doch erreiche?“, beschreibt der Leipziger Künstler Gunnar Wendel eine Annäherung an sein neues Album als Kassem Mosse.

Es trägt den schlichten Titel „workshop 32“ und erschien vor Kurzem beim Label Workshop. Sein Sound passt zur minimalistischen Ausrichtung des Labelkatalogs; seit 2006 veröffentlicht Workshop, meist in braunen Einheitscovern, innovative Techno- und Housetracks, die ihre Reise immer in die Clubs der Welt antreten und inzwischen auch darüber hinaus einen exzellenten Ruf besitzen.

Mit dem in Thüringen lebenden Workshop-Gründer Jens Kuhn, auch bekannt als Elektronikproduzent Lowtec, verbindet Wendel eine lange Freundschaft und vielfache musikalische Zusammenarbeit. Überhaupt ist Gunnar Wendel produktiv und veröffentlicht regelmäßig mit anderen Künstler:Innen, etwa als Zigtrax (zusammen mit dem Neuseeländer Jackson Bailey und seinem Leipziger Kollegen Lorenz Lindner), als FIT+KM (zusammen mit dem Detroiter FIT Siegel) oder als Dillon Wendel (zusammen mit der Londonerin Beatrice Dillon).

International erfolgreich, hier unbekannt

Viele von Wendels Projekten sind international erfolgreich – wenn auch aus unerfindlichen Gründen hierzulande vergleichsweise wenig bekannt. Als Kassem Mosse ist „workshop 32“ nun das erste Lebenszeichen seit sechs Jahren – das Material des Doppelalbums entstand im Kern bereits vor der Pandemie.

Kassem Mosse: „workshop 32“ (Workshop/Hardwax)

Wie die Gedanken, die es umgeben, rüttelt es an den Grenzen des Bestehenden. Die Bilder, die sich subtil durch die Musik von „workshop 32“ ziehen, sind keine Szenen tanzender Euphorie. „Mir geht es um ein Erschöpfungsgefühl, aber nicht im niedergeschlagenen Sinne. Es hat mehr zu tun mit Unrast und einem Gefühl, sich an Sachen abarbeiten zu müssen“, erklärt Wendel der taz. „Da sind zwei unterschiedliche Ebenen, einerseits Erschöpfung von der Arbeitswelt und andererseits Entgrenzung im Club und beides äußert sich ähnlich.“

Im Finale, „Provide Those Ends“, dem einzigen der zehn Tracks mit einem Titel, zeigt sich diese verhaltene Grundstimmung besonders deutlich: Vor dem Hintergrund eines nervösen rhythmischen Stolperns, benennen Schnipsel eines Filmdialogs Müdigkeit als Resultat einer prekären, zehrenden Arbeitswelt, die immer nur fordert, aber die Verheißung von Glück niemals einlöst.

Foto aus VEB-Kosmetik Kombinat

Auch das Cover, von dem aus ein halb im Schatten liegendes Gesicht mit dunklen Augenringen wie ausdruckslos aufschaut, fügt sich in das Narrativ der beruflichen Erschöpfung. Es ist eine Fotografie von Barbara Köppe und stammt aus der Porträtserie „Frauen – Schönheit – Schicht. Frauen im VEB Kosmetik-Kombinat“, die am Ende der 1980er Jahre noch in der DDR entstand.

Jene angespannte Erschöpfung drückt sich auf vielen Ebenen aus. „Sie drückt sich in der langen Form aus, also, dass alles so ausgedehnt ist“, sagt Wendel. Einige der zehn Tracks lassen sich auch als Ambient hören: Oft verzichtet Kassem Mosse in seiner Musik auf einen durchlaufenden Kickdrum-Puls und lässt auch rabiate Drops weg.

Die intensive Dynamik entsteht durch detaillierte, filigrane Schichtung der Klangelemente. Viele Melodiepartikel klingen kühl und düster, gleichzeitig organisch und dennoch wenig vertraut. „Ich arbeite gern mit gefundenen Sachen, die ich dann neu arrangiere“, erklärt Wendel. Oft sind es Stimmsamples. Durch das Arrangement verwischt er die ursprüngliche Bedeutung des Gesagten und ein neuer, undefinierter Raum öffnet sich. Sich eben nicht auf die etablierte Formensprache des Techno-Genres einzulassen ist typisch für Kassem-Mosse-Produktionen. „workshop 32“ verwebt Elemente aus Funk, Jazz, Noise und Ambient mit kühlem Techno und sucht dabei bewusst Widersprüche.

Scheitern von Imitation

Diese spannungsgeladene Musik hebt sich in der Produktion dennoch von Kassem Mosses bisherigen Alben ab: „Diesmal entstanden die Tracks in einem Prozess. Das wollte ich schon früher, es ist mir nur nie gelungen. Es war sehr konzentrierte Arbeit an hauptsächlich einem Gerät, das ich schon lange besitze und eher selten benutze. Sein Sound hat etwas Dünnes und Artifizielles“, das gerade keine besonders naturgetreuen Nachahmungen anderer Instrumente produziert. „Das ‚Scheitern‘ dieser Imitation, das ist etwas was ich klanglich sehr schätze,“ sagt Wendel.

Es ist ein Digital-Synthesizer aus den Neunzigern, den er wie viele seiner Maschinen durch Zufall günstig erstanden hat. „Es ist kompliziert damit zu arbeiten. In der Bedienung ist das Gerät umständlich, das finde ich dann auch ganz interessant, sich erst mal mit der Bedienungsanleitung und den Möglichkeiten herumzuschlagen“, schlägt er den Bogen zum Konzept des Albums zurück. Und fügt dann stirnrunzelnd hinzu: „Ich finde das Gerät gerade leider nicht mehr. Ich musste aus meinem Studio ausziehen und habe mein Equipment eingelagert, es ist ein bisschen schade.“

Störendes tut der Musik gut

Kassem-Mosse-Sound bleibt schwer zu fassen, aber ein Merkmal zieht sich durch alle Veröffentlichungen: Seine Musik dehnt Genregrenzen aus: „Ich versuche immer, etwas Störendes einzuschmuggeln.“ So, dass ein Korsett bleibt, das im Club funktionieren kann, innerhalb dessen gängige Erwartungen aber nicht erfüllt werden. Er sucht nach Brüchen. „Etwas fügt sich nicht ein. So was finde ich gut“, sagt er und wendet sich damit auch gegen Perfektion.

Dennoch situiert Gunnar Wendel seine Musik funktional im Clubkontext. „Ich habs jetzt schon ein paar mal gehört irgendwo“, sagt er und lächelt. „Dieses künstliche, nicht authentische Moment, das Clubmusik auch innewohnt, finde ich sehr attraktiv.“

Trotzdem wünscht sich Gunnar Wendel, dass seine Dance­floor-Musik über den funktionalen Aspekt hinaus etwas bewegt: „Dass sie vielleicht ein bisschen mehr auslöst als nur zu grooven, dass so ein unbestimmtes Gefühl beim Zuhören entsteht, ein Unbehagen. Dass da noch was anderes ist.“ Etwa bei Track fünf, in dem schabende, unregelmäßige Atemgeräusche ein Gefühl von Getriebenheit und Fragilität erzeugen.

Unter ein synkopisches Piepsen, das an EKG-Geräusche erinnert, breiten sich organisch klingende Samples aus, dazu spielt ein Synthesizer düstere Sounds, strukturiert durch eine stoische Kickdrum, die nicht zum Rhythmus des Atems passt. Setzt der Beat aus, bleiben das atemlose Geräusch und eine extreme Spannung zurück.

Nicht sofort zugänglich

Wendels Ästhetik bleibt bewusst vage, nicht nur im Klang, auch in der grafischen Gestaltung und in seinem Online-Auftritt. „Ich mache es den Leuten nicht einfach, aber es muss nicht immer alles einfach sein“, meint er. „Diese Idee, dass alles sofort zugänglich und nonstop verfügbar ist, mag ich nicht so gern.“ Es geht ihm um den Versuch, eine Offenheit zu bewahren, die in den kommerzialisierten sozialen Medien immer mehr verloren zu gehen droht.

„Früher konnte ich etwas veröffentlichen, einen Titel draufschreiben, eine Party machen und dafür fiktive Namen auf die Flyer schreiben“, sagt Wendel, der bis heute in immer neuen Aliasnamen auftaucht, zuletzt als DJ Residue und Seltene Erden. „Ich hab keine Lust, bestimmte Images zu pushen. Das ist aber eben so eine Entwicklung in dieser Szene, dass man sich dem nicht richtig entziehen kann. Vielleicht ist das meine Art, damit umzugehen, mich eben nicht festzulegen.“

Es sei schön, Konzepte schlicht nach eigenen Vorstellungen umsetzen zu können, findet Wendel, aber: „Ich verrenne mich auch.“ Er hebt den Wert der Zusammenarbeit, die einen Ideenabgleich von gemeinsamen Lernen möglich macht, ganz besonders hervor: Die Idee der Kollaboration ist ihm wichtig. „Dass man das auch musikalisch demonstriert, wenn man im Austausch etwas erzeugt.“

Wendel, aufgewachsen in Hessen, lebt seit den späten 1990er Jahren in Leipzig und hat dort viele Jahre mit dem Kollektiv Homo Elektrik die Freiräume der Stadt mit elektronischer Tanzmusik gefüllt. Die damals erlebte geteilte Verantwortung in egalitären Strukturen ist für ihn ein Ideal, mit dem er sich bis heute an eher professionell ausgerichteten Prozessen in der Leipziger Szene stößt: „Ich höre immer noch ein Restrauschen aus klandestinen Zusammenhängen, und damit Musikveranstaltungen zu machen, will ich mir auch nicht abgewöhnen.“

Wendel freut sich nun auf die erste Reise nach England seit langer Zeit, wo er bei einem Festival auftreten wird. Er wird weiter kollaborativ arbeiten. Und vielleicht findet sich auch der ominöse Synthesizer wieder, dessen Eigenarten den Sound seines neuen Albums ausmachen. Musik, die Kassem Mosse einmal mehr zu einem der innovativsten Tech­no­pro­du­zen­t*in­nen hierzulande macht und damit ein Statement setzt, dass die interessantesten Klänge schlicht aus Freude am Ungewohnten entstehen.

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