Gysis Gehirn und andere Größen

Erstmals zeigt ein deutscher Politiker sein bestes Stück vor: Es hat rote Flecken

Der Wahlkampf in Deutschland geht verschlungene Wege. Das beginnt damit, dass noch völlig offen ist, ob es überhaupt Wahlen geben wird, wann sie sein sollen und wer daran teilnimmt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Bundeskanzler lieber in den Urlaub düst, anstatt die Vertrauensfrage zu stellen. Bisher äußert er sich nicht dazu, hält dicht. Niemand weiß, was in seinem Kopf vorgeht – noch niemand. Denn erstmals wurde jetzt das Gehirn eines Politikers veröffentlicht und damit ein neuer Weg der politischen Wahrheitsfindung eingeschlagen, den auch andere Spitzenkräfte demnächst werden beschreiten müssen.

„Gregor Gysi – Er zeigt sein Gehirn“, meldet Bild am Dienstag und zeigt tatsächlich Röntgenaufnahmen und Computertomografien von Gysis Schädel. Sein Gehirn sieht so aus, wie ein Gehirn auszusehen hat: wie ein aufgedunsener Mopp, der zu lange im Wischwasser gestanden hat. Seine linke Hälfte ist naturgemäß etwas stärker durchblutet. „Die roten Flecken zeigen Blutströme“, doziert Bild. Ströme von Blut – alles andere wäre bei einem Kommunisten auch eine Überraschung. Deutlich ist die Ablehnung jeder in Frage kommenden deutschen Kriegsbeteiligung im vorderen Stirnlappen auszumachen. Im Mittelfeld seines Ganglienknäuels sieht es nicht gut aus für Hartz IV. Und etwas weiter hinten sind alle 49 Lottozahlen zu erkennen, die Gysi regelmäßig tippt.

Die für ellenlange Sätze zuständigen Gehirnabteilungen malochen auf Hochtouren, ebenso die Bereiche, die für Auftritte in Talkshows und eitle Selbstdarstellung verantwortlich sind. Etwas verkümmert scheinen dagegen die Areale, die das Interesse für Autotuning und Bauchnabelpiercing steuern. Alles in allem keine Überraschung, Gysis Hirn ist okay und arbeitet normal.

Selbstverständlich sind jetzt die Topkandidaten der anderen Parteien im Zugzwang, das Innenleben ihres Schädels zu publizieren, damit der Wähler weiß, woran er ist. Sieht es so aus wie bei Hempels unterm Sofa oder wie das Maschener Kreuz aus der Luft? Wie ein Albino-Ameisenhaufen? Oder wie der Gorgonzola, der seit Wochen im Kühlschrank schläft? Intime Bereiche, die etwa Mundgeruch oder Erektionsschwäche verraten, könnten mit einem schwarzen Balken versehen werden.

Das Hirn ist sicher erst der Anfang. Weitere Körperteile werden folgen. Bei manchen wird ein Ultraschallbild von der Leber sicher aussagekräftiger sein als eine Aufnahme vom Knie. Anstelle von mehrstündigen Ansprachen, die kein Mensch zur politischen Urteilsfindung benötigt, hält der Politiker die Magnet-Resonanz-Tomografie seines Rückgrats in die Kameras, und man weiß Bescheid.

Mit der Veröffentlichung von Gregor Gysis Gehirn hat eine aufregende Ära begonnen – auch wenn bereits Zweifel an der Echtheit der Bilder laut werden. Bild-Chef Kai Diekmann stellt sich gegenüber Zweiflern schon mal selbst den Persilschein aus: „Wir sind megasauber.“

Als Nächstes muss generell die gesetzliche Schweigepflicht der Ärzte, wie bereits vorbildlich im Fall Gysi geschehen, aufgehoben und in eine schrankenlose Mitteilungspflicht umgewandelt werden. Fieberkurven müssen kein Tabu mehr sein. Geschlechtskrankheiten dienen nur der Aufklärung.

Auch ist die Frage des Organhandels dringendst zu klären. Konkret: Darf Edmund Stoiber sich die Brüste von Dolly Buster applantieren lassen? Braucht Ulla Schmidt wirklich die handfegergroßen Augenbrauen von Theo Waigel? Und was wird am Ende dieser Entwicklung stehen? Der Politiker als Ersatzteillager? Immer und überall austauschbar? Das Gehirn von Gregor Gysi jedenfalls wäre in dem Kopf von, sagen wir, Kai Diekmann, ganz gut einquartiert. Doch wohin dann mit seinem? Vielleicht nimmt es ja Claudia Roth?

RAYK WIELAND