Die Moskitophilosophie

Argentinien verzichtet bei der Partie gegen den Afrika-Champion Tunesien auf etliche Stammspieler, kommt zu Beginn des Spiels kurzzeitig in Bedrängnis und gewinnt am Ende locker mit 2:1

AUS KÖLN MATTI LIESKE

Roger Lemerre hat schon viele große Fußballmannschaften gesehen – und auch trainiert. Mit Frankreich wurde der 64-Jährige im Jahr 2000 Europameister, bevor ihm das Malheur passierte, bei der WM zwei Jahre später in der Vorrunde auszuscheiden. Lemerre ist aber nicht nur ein profunder Kenner seines Sports, sondern auch eine Art spiegelverkehrter Klinsmann. Er lobt nicht das eigene Team über den grünen Klee, sondern das gegnerische. Während also die Argentinier, Spieler wie Trainer, ihren 2:1-Sieg zum Auftakt des Confederations-Cups gegen Tunesien vor 28.033 Zuschauern in Köln eher verhalten kommentierten, stimmte der Coach der Verlierer ein Hohelied auf die „argentinische Schule“ an.

„Ich bewundere den argentinischen Fußball sehr“, verkündete Roger Lemerre, bevor er im Sinne des in seiner augenblicklichen Wahlheimat geforderten Patriotismus hinzufügte: „Aber auch den tunesischen.“ Dann zählte er auf, was ihn an den Argentiniern so fasziniert: „Wie sie den ersten Ball nach dessen Eroberung spielen. Wie sie das Spiel lesen können. Sie wissen alles über Technik und Taktik. Die Tempowechsel. Die langen Pässe. Ihr Realismus. Die Entschlossenheit der gesamten Mannschaft.“ Kurzum: „Sie liefern große Kunst, können aber auch in den Zweikämpfen bestehen.“ Voilá, wir haben den künftigen Weltmeister gesehen. Glaubt man Lemerre.

Glaubt man den Argentiniern selbst, noch nicht mal unbedingt den künftigen Confederations-Cup-Gewinner. „Wir werden ins Halbfinale kommen“, sagte zwar Juan Román Riquelme bei seiner Präsentation als bester Spieler der Partie, merkte aber an: „Wir müssen uns stark verbessern.“ Tatsächlich tat sich das Team zunächst schwer gegen die flinken und ballsicheren Tunesier. „Sie haben uns das Leben kompliziert gemacht“, lautete anschließend das gemeinsame Mantra der argentinischen Delegation. Die Tunesier setzten Lemerres Instruktionen in den ersten zwanzig Minuten nahezu perfekt um. „Kleine Mannschaften müssen sich organisieren“, sagte der Franzose, wobei er den amtierenden Afrikameister ein bisschen arg winzig redete, ansonsten gehe es darum, den großen „Moskitostiche“ zu versetzen. Das klappte recht gut, und ein echter Hornissenstich wäre es gewesen, wenn Imed Mhadhebi mit seinem Strafstoß in der 18. Minute getroffen hätte. Doch als der hypernervöse Schütze den Ball ebenso lässig wie weit neben das Tor geschlappt hatte und Riquelme seinen Elfmeter eine Viertelstunde später kühl verwandelte, „konnten wir endlich ruhiger spielen“, so der Torschütze.

Es war gewiss nicht einfach für die Argentinier, nach dem emotionalen Rausch der vergangenen Woche mit dem 3:1 gegen Brasilien und der erfolgreichen WM-Qualifikation auf den Boden der Tatsachen eines zweitrangigen Prestigeturniers zurückzukehren. Zudem hatte Trainer José Pekerman einigen verdienten Stammspielern wie Roberto Ayala, Kily Gonzalez, Torwart Roberto Abbondanzieri und Stürmer Hernán Crespo Urlaub gegeben und statt gestandener Kräfte wie Real Madrids Walter Samuel oder den Inter-Spielern Javier Zanetti und Esteban Cambiasso jüngere, weniger erfahrene Leute eingesetzt. Maxi Rodriguez, Mario Santana, Luciano Galletti, Gonzalo Rodriguez oder den engelhaarigen Fabricio Coloccini. Anders als beim Kollegen Klinsmann, ist das jedoch nicht der verzweifelte Versuch, aus Quantität irgendwie Qualität zu destillieren, sondern eine Demonstration des Reservoirs, aus dem Pekerman schöpfen kann. Mehr als 40 Akteure wurden bislang in der WM-Qualifikation eingesetzt, und wer auch immer spielt im argentinischen Team, wird es kaum schwächen. Auch die Grünschnäbel gehören schließlich schon renommierten europäischen Klubs an. Jeder ist ersetzbar, auch ein großartiger Spielmacher wie Riquelme vom FC Villarreal, der Effektivität und Raffinesse vorbildlich zu verbinden weiß, aber in Pablo Aimar vom FC Valencia einen kongenialen Partner respektive Konkurrenten im Kader hat. Und irgendwo im Hintergrund lauern auch noch Andres D’Alessandro und Juan Verón.

Alles in allem war es in einem unterhaltsamen Spiel eine beeindruckende Vorstellung der Argentinier, die sie mit dem wunderbar herausgespielten zweiten Tor durch Javier Saviola krönten, mit vielen vergebenen Torchancen garnierten und in der Schlussphase durch die dynamischen Sololäufe des eingewechselten Carlos Tevez abrundeten. Bemerkenswert, dass sie insgesamt nur acht Fouls begingen, von denen ein Viertel auf das Konto des Torhüters Germán Lux ging und zwei Strafstöße für Tunesien brachte. Der Keeper von River Plate ist ein würdiger Sprössling einer Abart von Argentiniens Fußballschule, die Roger Lemerre weniger gefallen dürfte: jene der durchgeknallten und katastrophenfreudigen Torhüter. Begründet in den Siebzigern vom langmähnigen Hugo Gatti, der mehr in der gegnerischen Hälfte als im eigenen Strafraum herumtobte, fortgeführt von Leuten wie Fillól, Púmpido, Goicoechea oder Roa, der bei Real Mallorca irgendwann nur noch Europacupspiele bestritt, weil ihm die religiöse Gemeinschaft, der er angehörte, verbot, am Sonntag zu arbeiten, leider Spieltag der spanischen Liga. Nun Germán Lux, der den Tunesiern nicht nur die zwei Elfmeter servierte, sondern ihnen auch ein paar Bälle vor die Füße fallen ließ und seinen schönsten Moment hatte, als er nach einem kühnen Dribbling am eigenen Fünfmeterraum den Ball lässig mit dem Außenrist gut zwei Meter am Adressaten Coloccini vorbei genau zu einem Tunesier zwirbelte, der, völlig verwirrt, das leere Tor verfehlte.

Insgesamt waren aber sowohl Pekerman als auch seine Spieler mit der gezeigten Leistung zufrieden. Ihre Probleme schrieben sie vor allem der Klasse des Afrikameisters zu. „Sie haben uns das Leben schwer gemacht, sie werden auch anderen das Leben schwer machen“, beurteilte Riquelme die Chance der Tunesier, sich noch für das Halbfinale zu qualifizieren. Ähnlich sieht das Roger Lemerre, der seine Moskitophilosophie auch morgen gegen die Deutschen zur Anwendung bringen will. „Die Kleinen“, so der notorisch tiefstaplerische Franzose, „sind schwer zu fangen.“