Renaissance
auf Rädern

Zu Beginn der Radsportsaison ist die Begeisterung der Fans größer denn je. Das Sponsoreninteresse wächst. All das liegt auch am attraktiveren Fahrstil auf den Rundfahrten und Eintagesrennen

Attacke: Tadej Pogačar (vorne) hält nicht viel von zurückhaltender Taktik   Foto: Fo­to: ­Panoramic International/imago

Von Tom Mustroph

Kurz nach Sonnenaufgang schon stehen Menschen in der Gebirgsregion der Abruzzen auf. Sie haben Absperrbänder dabei, um die Wege zur Strecke der Fernfahrt Tirreno Adriatico abzusichern. Klar, es stehen auch Polizisten an vielen Einmündungen und sorgen in ihrer Dienstzeit für Einhaltung der Regeln. Aber ohne die Tausenden von Freiwilligen, die zu lokalen Organisationskomitees gehören, gäbe es keine professionellen Radrennen mehr, zumindest nicht in Europa.

Radsport hat für sie – und für die vielen Tausenden, die als Zuschauer an der Strecke des Tirreno stehen, oft mitten am Arbeitstag, außerhalb jeder Feriensaison, im Sonnenschein wie auch bei Hagelschauern – seine Attraktivität bewahrt. Und das auch über die finsteren Dopingskandalzeiten ab den 1990er Jahren hinweg. Momentan scheint die Attraktivität sogar zuzunehmen. Die diversen Lockdowns in der Pandemie, bei denen Radfahren an der frischen Luft eine der wenigen legalen Ausbruchsmöglichkeiten darstellte, trugen dazu bei.

Und auch erfrischende neue Fahrweisen im Profi-Peloton haben daran einen Anteil. Davon jedenfalls ist der alte Fahrensmann Patrick Lefevere überzeugt. „Die Fahrer verstecken sich nicht mehr im Peloton. Sie attackieren mutig, greifen schon 50 Kilometer vor dem Ziel an. Sie liefern ein Spektakel. Das ist schön für die Zuschauer. Es ist auch neuer Radsport“, schwärmt er. 44 Jahre als Betreuer hat der Rennstallchef von Soudal Quick Step schon auf dem Buckel. Der Belgier ist das Gedächtnis des Radsports. Natürlich hat er auch ein Eigeninteresse, seine Branche über den grünen Klee zu loben.

Aber was er beschreibt, entspricht der Realität. Und Fahrer seines Rennstalls wie Julian Alaphilippe oder Remco Evenepoel gehören zu den Pionieren des neuen Stils wie auch der Belgier Wout van Aert und der Niederländer Mathieu van der Poel. Ein weiterer Jungdynamiker ist Tadej Pogacar, der mit seinen munteren Attacken Rundfahrten neue Reize gibt. Das waren lange Jahre vor allem Zauderer, die Fehler vermieden und so kraftsparend wie möglich fahren wollten – und damit gähnende Langeweile in die Rennen brachten. Pogacar hingegen schert sich nicht um Verschleiß. Die Scriptschreiber des neuen Radsports müssen ihm nur noch beibringen, dass zu viel Siege von ihm die Sache auch wieder langweilig werden lassen. Fünf Siege in elf Renntagen holte er in dieser Saison bereits – das ist ein potentieller Spannungskiller.

Dennoch, die neue Attraktivität des Radsports führt aktuell sogar zu einem neu erwachten Sponsoreninteresse. Nach den Dopingskandalen hielten vor allem schlau rechnende Marketingexperten von mittelständischen Unternehmen wegen des tollen Verhältnisses von eingesetzten Werbemitteln und erreichter Reichweite dank der Fernsehübertragungen dem Radsport die Treue. Und neuer Geldsegen kam in erster Linie durch Staaten mit eher düsterer Menschenrechtsbilanz, die ihre Namen jetzt mit schönen Radsportsiegen aufpolieren wollen – siehe Team Bahrain, Team UAE und auch Team Jayco AlUla, das den Namen einer saudi-arabischen Tourismusregion auf die Trikots drucken ließ.

Aber in diesem Jahr klopfen ganz andere Geldgeber sachte beim Radsport an. Die beiden neuen Schweizer ProContinental-Teams Tudor und Q36.5 sind jeweils von traditionellen Unternehmen der Uhrenbranche finanziert. Die Luxusuhrenmarke Tudor ist Hauptsponsor des gleichnamigen Teams, Branchenrivale Breitling steckt hinter Q36.5. Das ist das Nachfolgeteam des afrikanischen Qhubeka-Rennstalls, der einst Furore machte mit dem Programm der gleichnamigen Stiftung, die Räder für Kinder in Südafrika zur Verfügung stellte. „Mit Qhubeka sind wir immer noch verbunden“, erzählt Doug Ryder, Chef des alten und auch des neuen Rennstalls. „Wir haben weiter ein Development-Team, in dem wir Fahrer aus Afrika unterstützen“, erzählt er weiter.

„Die Fahrer verstecken sich nicht mehr im Peloton. Sie attackieren mutig, greifen schon 50 Kilometer vor dem Ziel an“

Patrick Lefevere, Teamchef von Quick Step

Ryder ist aber auch beglückt über die Sponsoren der neuen Schweizer Teams. „Ich denke, es handelt sich wirklich um den Beginn einer neuen Zeit im Radsport. Es herrscht wieder Vertrauen. Der Sport selbst ist unglaublich dynamisch und toll anzuschauen. Dass jetzt Marken von der Güte von Tudor und Breitling in den Sport zurückkommen, ist einfach grandios“, konstatiert Ryder.

Bei der Radfernfahrt Tirreno-Adriatico konnte auch der Bremer Lennard Kämna begeistern. Er übernahm nach der vierten Etappe die Führung in der Gesamtwertung. Das derzeit am weitesten entwickelte deutsche Rundfahrttalent macht mit diesem Coup Hoffnungen auf größere Dinge – am besten dann im Spätfrühling im Mai beim Giro d’Italia.