Die Wahrheit: Die Sex-Jugend von heute

Pubertierende Jungs können verdammt verklemmt sein, wenn es um ihre Rolle im beliebten Rein-Raus-Spiel geht, weiß jeder alte weiße Mann.

Einer unserer Hausbewohner hatte offensichtlich sein Bücherregal entrümpelt. Nun stand die obligatorische „Zu verschenken“-Kiste im Hausflur. Staunend erblickte ich allerlei Grundsatzwerke wie „Das Kapital“ von Marx, Sekundärliteratur über Lenin und Abhandlungen zu linker Wirtschaftstheorie. Guck an, dachte ich, hätte ich von den Nachbarn gar nicht erwartet. Aber dann lag obenauf auch noch das Werk „Sex – die besten Stellungen“.

Ich gebe zu, dass der Titel mich vom angebotenen Repertoire am meisten gereizt hätte. Zugegriffen habe ich trotzdem nicht. Zu gruselig fand ich den Gedanken, mir vorstellen zu müssen, wie jemand von unseren Hausmitbewohnenden anhand dieses Werkes sein Liebesleben einstudiert hat. Ich meine: Will man das wirklich wissen von den Menschen, denen man täglich an der Mülltonne oder am Briefkasten begegnet?

Als mein älterer Sohn neulich beklagte, sein Lesestoff sei ihm ausgegangen, schlug ich ihm vor, er könne sich ja auch mal eines meiner Bücher vornehmen, er sei doch jetzt alt genug dafür. Das wäre doch sicherlich was ganz Besonderes, mal ein Buch zu lesen, das der eigene Vater geschrieben hat. Da schaute er mich entsetzt an und sagte, da habe er zu viel Angst davor, auf Sex-Geschichten von mir zu stoßen. Das sei ihm ja wohl nicht zuzumuten. Ich dachte: Spießer! „Was glaubst du denn, wie du entstanden bist?“, fragte ich ihn, woraufhin er sich entsetzt die Ohren zuhielt und „Na-na-na“ machte. Diese Jugend, sie wird immer prüder.

Als wir neulich zusammen eine längere Tour im Auto gefahren sind, hörten wir ein Hörbuch, und weil ich stets bemüht bin, den Kindern Kultur nahezubringen, wählte ich ein von Harry Rowohlt eingelesenes. Darin kam ein Junge vor, der von einem Mädchen schwärmte, weil es so scharf aussah, obwohl er es ansonsten doof fand. Trotzdem versuchte er, es mit allen möglichen Tricks rumzukriegen, um wenigstens einmal mit ihr zu knutschen.

Die Jungs waren empört. Sie fanden das voll sexistisch. Ich war irritiert. „Wieso ist es sexistisch, wenn er sie scharf findet?“, fragte ich verblüfft. „Weil er sie auf das Äußere reduziert, denn ansonsten findet er sie ja blöd.“ – „Nun ja“, gab ich zu bedenken, „das ist vielleicht nicht die ideale Basis, um eine langjährige Beziehung darauf aufzubauen. Aber dass man Leute nur aufgrund ihres Äußeren begehrenswert findet, scheint mir eher eine biologische Grundlage zu sein als ein Zeichen von Sexismus.“ Sie sahen mich beide finster an. Ich fürchte, allmählich werde ich für sie auch nur ein alter weißer Mann.

Ich hatte keine Lust, weiter auf dem Thema herumzureiten, und dachte: Na, dann viel Spaß beim sexismusfreien Wichsen. Kein Wunder, dass sie sich das Buch offenbar auch nicht mitgenommen haben. Sex geht bei uns im Haus so schlecht wie Kommunismus, dachte ich nach ein paar Tagen traurig, als die Bücherkiste immer noch unberührt dastand. Die Welt ist in einem beklagenswerten Zustand.

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Heiko Werning ist Reptilienforscher aus Berufung, Froschbeschützer aus Notwendigkeit, Schriftsteller aus Gründen und Liedermacher aus Leidenschaft. Er studierte Technischen Umweltschutz und Geographie an der TU Berlin. Er tritt sonntags bei der Berliner „Reformbühne Heim & Welt“ und donnerstags bei den Weddinger „Brauseboys“ auf und schreibt regelmäßig für Taz und Titanic. Letzte Buchveröffentlichung: „Vom Wedding verweht“ (Edition Tiamat).

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

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