Neuer Roman von Virginie Despentes: Wegballern als Extremsport

Virginie Despentes jagt eine freiheitsliebende Diva und einen gekränkten Täter aufeinander los. Außerdem geht es im neuen Roman um Ekstase und Askese.

Virginie Despentes ist blond und raucht

„Liebes Arschloch“: Virginie Despentes Foto: JF PAGA

Die Konstruktion des Romans ist einfach, aber schlagend: Bekannter Krimiautor lästert auf Instagram über prominente Schauspielerin, sie sei zur „Schlampe verkommen. Nicht nur alt. Sie ist auch auseinandergegangen, verlebt, schlechte Haut, ein schmuddeliges, lautes Weibstück.“

Sie keilt schriftlich in einer PN zurück: „Ich hoffe jetzt nur, dass deine Kinder von einem Lastwagen überfahren werden und du ihren Todeskampf mitansehen musst, ohne etwas tun zu können, und dass ihnen die Augen aus den Höhlen spritzen und ihre Schmerzensschreie dich jeden Abend verfolgen.“

Es ist der Beginn einer wundervollen Brieffreundschaft.

Denn schon in den nächsten beiden Mails stellt sich heraus, dass Rebecca Latté und Oscar Jayack – beides Künstlernamen – sich von früher kennen; sie sind im selben Vorort aufgewachsen, kommen aus der Arbeiterklasse, Rebecca und Oscars große Schwester waren zu Schulzeiten sogar beste Freundinnen. Beide sind berühmt geworden: Sie als überaus attraktive, sexpositive Filmschauspielerin irgendwo zwischen Béatrice Dalle und Isabelle Adjani, immer mit den gefährlichen Jungs liiert, immer auf harten Drogen und neuerdings ein Idol junger Feministinnen, gleichzeitig aber im Filmgeschäft nicht mehr ganz so nachgefragt – der berühmte Karriereknick in den Wechseljahren.

Virginie Despentes: „Geliebtes Arschloch“. Aus dem Französischen von Ina Kronenberger und Tatjana Michaelis. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023, 336 Seiten, 24 Euro

Shit-Storm und Verrohung

Er, gut zehn Jahre jünger, getrennt lebender Vater einer Teenagertochter, mit der er nichts anfangen kann, schreibt als nicht sonderlich attraktiver Autor mit authentischem Proletarier-Image Bestsellerkrimis und steckt ebenfalls in der Krise, seit die junge Netzfeministin Zoé Katana publik gemacht hat, dass er sie, als sie noch Pressereferentin seines Verlags war, gestalkt hat, bis ihr nur die Kündigung blieb. Extrem unfair, findet Jayack, schließlich hat sie ihn abgewiesen.

Indem Virginie Despentes in „Liebes Arschloch“ (frz. „Cher Connard“) die freiheitsliebende Diva und den gekränkten Täter aufeinander jagt und gelegentlich Blogbeiträge von Zoé dazwischenfunken lässt, hat die französische Autorin sich ein locker federndes Sprungbrett in alle möglichen gesellschaftlichen Debatten gebaut.

Die Verrohung des Umgangs auf Social Media und die Shit-Storm-Kampagnen der Maskulinisten, der beklagenswerte Zustand des französischen Films, Femizide und der kaum thematisierte sexuelle Missbrauch von Jungen, die Auswirkungen der Coronapolitik, aber auch der technologisch-bürokratische Irrsinn des Erwerbs einer digitalen Zugfahrtkarte für den Hund, all das handeln Oscar und Rebecca mit Witz und leitartikelfähiger Wortgewalt ab.

Im Suff Blödsinn sagen

Das wirkt manchmal etwas unvermittelt, zumal beide Seiten zum Monologisieren neigen, doch kurz bevor sich die narzisstischen Prediger aus den Augen verlieren, flicht ­Despentes stets einen Satz ein, in dem die eine auf den anderen eingeht.

Zumal es neben der Herkunft weitere Themen gibt, die beide teilen. Als Oscar vor der öffentlichen Blamage nach Katanas Statement abtaucht, beschließt er, die Finger von Alkohol und Koks zu lassen („Ich kann mir nicht erlauben, im Suff irgendwelchen Blödsinn von mir zu geben. Nicht jetzt.“) und schließt sich einer Selbsthilfegruppe an. Während er von der neuen Nüchternheit schwärmt, hält Rebecca Latté noch eine Weile an der Überzeugung fest, so gut mit harten Drogen klarzukommen, „dass es schade wäre, darauf zu verzichten“: „Sich wegballern ist ein Extremsport“, ja, ein Geschäftsmodell im Verhältnis zu Fans und Publikum: „Ich begebe mich für sie in Gefahr. Und indem sie dabei zusehen, überschreiten sie die Grenze des Erlaubten, durch mich.“ Wenn da nur nicht ihr Alter wäre.

Einerseits räumt Despentes der Diskussion von Ekstase versus Askese, der Erforschung der Suchtgründe erstaunlich viel Platz ein – andererseits braucht es zwei nüchterne, einfühlsame Hirne, um die entscheidende Nuss zu knacken: Wie war das jetzt mit Zoé und Oscar? Sind die jungen Feministinnen überempfindliche Schneeflocken, die genau wie ihre Feinde jeden digital fertigmachen, wenn sie nur wollen?

Narcotis Anonymous sei Dank erweisen sich Despentes Prot­ago­nis­t:in­nen als entwicklungsfähig: Dem lange nur mit den eigenen Kränkungen beschäftigten Oscar dämmert bei einer Lesereise nach Deutschland endlich, was er Zoé zugemutet hat. Femme fatale Rebecca wiederum versteht tendenziell auch die Generation Deneuve, die 2018 #MeToo als moralinsaure Bedrohung sexueller Freizügigkeit missverstand. Vor allem aber sieht sie von ihrem eigenen Stress mit dem Älterwerden ab und wird zur Vermittlerin zwischen den Geschlechtern und Generationen.

Punk und Revenge-Porn

Eine ganz ähnliche, nicht minder glaubwürdige Vermittlerin ist im Grunde auch Virginie Despentes: Geboren 1967 als Tochter zweier gewerkschaftlich engagierter Postbeamter, verbrachte sie eine wilde Adoleszenz zwischen Punk, Gelegenheitsprostitution und einer Gewalterfahrung, die sie in ihrem wütenden Revenge-Porn „Baise-moi“ (1994) verarbeitete. Seit ihrem feministischen Essay „Die King Kong Theo­rie“ (2006), spätestens aber seit ihrem dreibändigen, mehrfach preisgekrönten Gesellschaftspanorama „Vernon Subutex“ (2015–2017) ist Despentes auch eine Lieblingsautorin deutscher wie französischer „Bobos“, die sie abwechselnd als „Balzac des 21. Jahrhunderts“ oder als komplementären Zwilling Michel Houelle­becqs preisen.

Schwierige Vergleiche, zumal die Linksfeministin Despentes – anders als der mit Rechten und Katholiken kokettierende Houellebecq – tatsächlich das Potenzial und den sichtlichen Wunsch hat, in eine gespaltete Gesellschaft nicht noch weitere Keile zu treiben, sondern Brücken zu bauen und für Solidarität zu werben. Aber ist ein Roman da das Mittel der Wahl? Einen humorvollen, locker wegzulesenden (auch in der rhythmisch und umgangssprachlich sitzenden Übersetzung von Ina Kronen­berger und Tatjana Michaelis) und trotzdem an entscheidenden Stellen der Debatte immer wieder differenzierenden Versuch ist es jedenfalls wert.

Glückliches Frankreich, wie gespalten auch immer: Ihr habt Despentes, wir haben Juli Zeh.

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